Als er seine kleine Tochter Gomathy als Nummer 1.139 in der Fotogalerie der Toten von Velankanny (Bundesstaat Tamil Nadu) identifiziert, hat der Fischer Subash keine Tränen mehr. Gomathy ist das siebte Familienmitglied, dessen Tod ihm die Polizei heute bescheinigt. Seine Mutter hat er noch nicht gefunden, und die Rettungsarbeiten gelten als abgeschlossen für Velankanny. Indien hat seine Toten begraben - es sind mehr als 10.000, aber über 5.000 Menschen werden noch vermisst. Es besteht kaum Hoffnung, auch nur wenige von ihnen lebend wieder zu finden. Eine grausame Bilanz, aber das Leben geht weiter. Morgen wird Subash in die Stadt fahren und ein Bankkonto eröffnen, das erste in seinem Leben. Er wird die Schecks der Regierung einreichen, die er erhalten hat - für sein zerstörtes Haus, sein zertrümmertes Boot, den Verlust naher Angehöriger.
Inzwischen schreitet überall an der Südküste der Wiederaufbau zügig voran. In Kerala werden Entwürfe für künftige Siedlungen am Meer vorgestellt - Häuser auf Stelzen, erhöhte Rettungsplattformen, Schutzwälle gegen die Brandung. Das Institut für Weltraumforschung in Delhi will dem Land das Projekt eines integrierten Katastrophenmanagements anbieten, das auf ein alternatives Kommunikationssystem via Satellit optiert, sollte - wie in Teilen Indiens am 26. Dezember 2004 geschehen - der Telefonverkehr zusammenbrechen und die Elektrizitätsversorgung kollabieren. Und schließlich der Wissenschaftsminister, er legt einen Zeitplan für den Aufbau eines eigenen Tsunami-Warnsystems für den Indischen Ozean vor - in vier Jahren soll es betriebsbereit sein.
Trotz der Trauer um die Opfer will Indien in diesen Tagen nicht verhehlen, wie selbstbewusst und stolz es sein kann. Die Gewissheit, eine Katastrophe dieses Ausmaßes aus eigener Kraft bewältigen zu können, mag dafür ausschlaggebend sein. Unmittelbar nachdem die Regierung entschieden hatte, weitgehend auf Hilfe aus den Ausland zu verzichten, reihte sich die Opposition ohne Wenn und Aber in den Schulterschluss der Patrioten ein. Die Medien feierten den endgültigen Abschied von der indischen Bettelschale. Immerhin fange der von Premier Manmahon Singh eingerichtete Hilfsfonds eine beispiellose Flut von Spenden auf, die nicht nur von Industriellen und Kricketstars kämen, sondern von Menschen aller Schichten - sogar Bettler und Straßenkinder wollten sich beteiligen. Kurzzeitig hatte die Regierung erwogen, angesichts der Katastrophe den üblicherweise aufwändigen Feierlichkeiten zum Republic-Day am 26. Januar zu entsagen. Doch nun soll das Ereignis im Dienste der nationalen Einheit und zur Ehre des kulturellen Reichtums erst recht zelebriert werden - die Feier werde Mut einflößen, den man zum Überleben brauche, gerade jetzt, heißt es zur Begründung.
Mit der Parade zum Republic-Day wird nicht nur Gelegenheit sein, den Einsatz der indischen Streitkräfte seit dem 26. Dezember zu würdigen, sondern auch auf die massive Präsenz amerikanischer Militärverbände im Hoheitsgebiet Sri Lankas, Thailands und Indonesiens zu reagieren. Ohnehin gelten die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten in jüngster Zeit als belastet, seit Intimfeind Pakistan auf die Lieferung von F-16-Kampfjets rechnen darf. Das Motiv der Bush-Administration, Delhi derart brüsk vor den Kopf zu stoßen, dürfte weniger strategischer, sondern eher wirtschaftlicher Natur sein. Es geht um Indiens rasant steigende Devisenreserven, die bei einem Wirtschaftswachstum von fünf Prozent (s. Übersicht) Anfang 2005 die sensationelle Marke von 130 Milliarden Dollar überschritten haben. Die Regierung soll gezwungen werden, den USA anderweitig nicht sonderlich nützliche Patriot-Abfangsysteme für F-16-Jäger abzukaufen, um die Parität gegenüber Pakistan zu wahren.
Der Tsunami bietet den USA einen willkommenen Anlass, politisch vernachlässigtes Terrain zurück zu gewinnen und dabei die Militärpräsenz in der Region aufzustocken, ohne übermäßiges Misstrauen zu wecken. Zur Zeit nehmen mehr als 13.000 US-Soldaten mit Kriegsschiffen, Flugzeugen und Helikoptern am größten Manöver im asiatischen Raum seit dem Ende des Vietnamkrieges vor fast 30 Jahren teil. Was vor dem 26. Dezember undenkbar gewesen wäre - der Flugzeugträger USS Abraham Lincoln liegt mit 6.000 Mann vor der Küste der separatistischen Sumatra-Provinz Aceh, die bisher für Ausländer kaum zugänglich war. Noch nie seit dem Abgang des Autokraten Suharto vor über sechs Jahren bestanden derart vorzügliche Aussichten für eine Revitalisierung der Kooperation mit den indonesischen Streitkräften. Eine belastbare Militärallianz mit dem bevölkerungsreichsten muslimischen Land der Erde - das ergäbe ein Bündnis von außergewöhnlichem strategischen Wert für die USA.
Die Ökonomie Südasiens 2004 vor der Tsunami-Katastrophe
Quellen: NZZ, Economic and Social Commission for Asia and the Pacific (ESCAP)
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