Ob das der Auftakt zu „Teheran ähnlichen Zustände” in Kabul werden kann, wie Herausforderer Abdullah sie im August ankündigte, wird sich zeigen. Der Joker ist jedenfalls schon mal im Spiel, um bei Bedarf gezogen zu werden. Von Anfang an waren Hamid Karsai und Ex-Außenminister Abdullah Kandidaten von recht unterschiedlichem politischem Gewicht. Abdullah, der Favorit des Westens, brachte trotz reichlicher Vorschusslorbeeren am 20. August nur ein mäßiges Wahlergebnis zustande. Das lag nicht allein am Betrug der Gegenseite. Viele Paschtunen lehnten ihn wegen alter Verbindungen aus der Zeit des Bürgerkrieges ab, der in den neunziger Jahren das Land verwüstete und die Taliban an die Macht brachte. Karsai dagegen genießt als Sohn eines Stammesführers der paschtunischen Popolzai breite Unterstützung unter den 40 Prozent paschtunischer Afghanen. Sogar für viele paschtunische Taliban ist er akzeptabel. Durch geschickte Bündnisse ausgeweitet, greift sein Einfluss tief in anderen Gemeinschaften, und er versteht es, zahlreiche untereinander im Streit liegende Warlords an sich zu binden. Der Sieg von Karsai Co. schien daher im August so gut wie sicher. Doch Washington passte er nicht ins Konzept.
Holbrooke hinausgeworfen
Dann kam das große Wahlbetrugsdrama und machte die Show über die mutmaßliche Demokratisierung Afghanistans zur Farce. In den Bergen des Hindukusch glaubte der pakistanische Autor Tariq Ali das Echo schallenden Paschtunen-Gelächters zu vernehmen. Die große, nun losbrechende Entrüstungswelle bot der vereinigten westlichen Diplomatie eine Chance, Karsai aus dem Sattel zu heben, doch war das alles andere als einfach. Der Präsident hat schnell begriffen, dass seine innenpolitische Stärke in der Unbeugsamkeit vor seinen früheren Herren liegt – also gab es sich hart. Das bekam der US-Sonderbeauftragte Richard Holbrooke zu spüren. Als er Karsai noch am Wahltag im August auf einen Wahlbetrug ansprach, musste der Diplomat die präsidiale Dinner-Tafel verlassen, ohne gespeist zu haben. Doch zwei Monate später gelang es John Kerry, dem demokratischen Vorsitzenden des außenpolitischen Ausschusses im US-Senat, Karzai in einem angeblich 72-stündigen Gesprächsmarathon zu zermürben. Danach bedurfte es noch ein paar energischer Stöße von Hillary Clinton, vom britischen Premier Brown, vom französische Außenminister Bernard Kouchner, UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon und NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen – und der Unbeugsame ging zu Boden.
Wenn Karsai nun – und plötzlich mit allgemeiner Billigung – seine zweite Amtszeit antritt, wird alles anders sein als zuvor: Nach seinem Kotau ist dieser Präsident mehr den je eine Marionette, dem man "Reformen" diktiert, und dessen Kabinett nicht in Kabul, sondern in Washington ernannt wird. Was seine öffentliche Demütigung noch unterstreicht, ist die pünktlich lancierte Enthüllung, sein Bruder Ahmed Wali Karsai stehe seit Jahren im Sold des CIA. Wer wird Karsai in Afghanistan nun noch trauen? Und werden sich seine Bündnispartner, die ehemaligen Warlords, so einfach um ihren Teil des Regierungskuchens prellen lassen? Schon stellt der frühere Mudschaheddin-Kommandant Burhanuddin Rabbani seine Forderungen, die anderen werden nicht lange auf sich warten lassen. Wird Karsai durch sein altes Bündnisnetz stranguliert? Und wie wird er sich, entwurzelt und gezüchtigt, in Afghanistan weiter als Regierungschef behaupten können? "Es wird Zeit", sagt US-Senator Joseph Lieberman im US-Kanal CBS, "dass wir aufhören, Karsai zu verprügeln, und stattdessen beginnen, ihn und seine Regierung aufzubauen und zu der Regierung zu machen, die wir brauchen, denn sie sind nicht unser Feind. Der Feind sind die Taliban."
Refugium Nuristan
Während des wochenlangen Wahltheaters hat der Krieg in Afghanistan und Pakistan eine dramatische Wende genommen. Die Besetzung der Grenzprovinz Nuristan durch Taliban-Hardliner hat die dortigen US-Trupen von ihren Basen vertrieben. Während die pakistanische Armee in verlustreichen Schlachten den harten Kern der islamistischen Aufständischen in den Stammesgebieten von Süd-Waziristan zu zerschlagen sucht, scheinen sie einen neuen sicheren Hafen jenseits der Grenze gefunden zu haben. Die Konsequenzen könnten verheerend sein.
Es wird erwartet, dass Präsident Obama in den nächsten Wochen, sobald die neue Regierung Karsai für Washington akzeptable Konturen angenommen hat, den Forderungen von General McChrystal nachgibt und 40.000 Mann zusätzliche Truppen nach Afghanistan schickt.
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