Im Parikrama gehen die Lichter an. Während man auf der Drehscheibe im 43. Stockwerk des weit die Innenstadt von Delhi überragenden Turmes ganz langsam von Fenster zu Fenster fährt, gleitet draußen die Millionenstadt vorbei - das doppelte Rund des Connaught-Platzes, Südblock und Nordblock der Regierung, das Rote Fort, die weiße Blüte des Bahai Tempels, die goldene Kuppel des Sikh Tempels, Qutab Minar, Apollo-Herzklinik, Amerika-Zentrum, die Redaktion der Hindustan Times - bei gutem Wetter sieht man den Internationalen Flugplatz.
Am Tag nach den Terroranschlägen auf WTC und Pentagon informierte der britische Geheimdienst die indischen Partner, dass er neun Piloten - offenbar mit der Mission, Delhi anzugreifen - aus den Augen verloren habe. Da galten schon lange Sicherheitsvorkehrungen der Alarmstufe Eins. Für die gesamte Innenstadt bestand bereits eine Stunde nach den Attentaten in den USA absolutes Flugverbot. Kampfflugzeuge mit Flugabwehrwaffen hatten Abschussorder für jeden Eindringling. Die Regierung war evakuiert, die Airports standen unter Militärschutz, mobile Kommandos waren in der ganzen Stadt präsent, doch Panik gab es nicht. All dies gehört zu einer Routine, die jedes Jahr mindestens zweimal abrollt: am Tag der Republik und am Unabhängigkeitstag ist Delhi auf jeden Angriff vorbereitet. Und nicht nur Delhi: in vieler Hinsicht gefährdeter als die Hauptstadt ist die Wirtschaftsmetropole Bombay. Mögliche Angriffsziele sind hier neben Flughafen und Börse das Atomforschungszentrum und das Hauptquartier der nuklearen und Marine-Operationsbasen des Landes. Entlang der Westküste liegen außerdem wichtige Armee- und Luftwaffenstützpunkte, Niederlassungen der großen Firmen, darunter Ölraffinerien, die das wirtschaftliche Rückgrat Indiens bilden.
Für Premier Vajpayee ein äußerst peinlicher Vorgang
Im Gegensatz zu den USA blickt Indien auf eine lange Reihe von Terroranschlägen zurück. 1993 zum Beispiel kostete eine Serie von Bombenexplosionen in den Geschäftszentren von Bombay mehr als 300 Menschen das Leben und verletzte 1.500 - die Rache islamischer Extremisten für die Zerstörung des Babri Masjid durch fanatische Hindus. Vor allem in Kaschmir sind Terrorangriffe an der Tagesordnung. In den zurückliegenden zehn Jahren wurden hier mehr als 17.000 Zivilisten getötet, die meisten von ihnen Frauen und Kinder. Während ich diesen Text schreibe, wird gerade der Angriff eines Selbstmordkommandos auf das Parlament in Srinagar gemeldet, bei dem 29 Menschen getötet wurden.
Premierminister Atal Behari Vajpayee zögerte denn auch keinen Augenblick, Präsident Bush die volle Unterstützung im "Krieg gegen den globalen Terrorismus" zuzusichern. Schon am 12. September schickte er den Chef des indischen Geheimdienstes mit einem Köfferchen nach Washington, das Informationen über bin Laden, die Taleban und ein weites Netz islamischer Extremisten enthielt, darunter Lagepläne der geheimen Trainingscamps in Pakistan und Afghanistan sowie Satellitenfotos, die zeigten, wie islamistische Kommandos von pakistanischen Offizieren trainiert wurden. Auch detailliertes Material über bin Ladens aktuellen Gesundheitszustand wurde übermittelt. Sein Arzt war gerade bei einem Incognito-Besuch zum Einkaufen von speziellen Medikamenten in Delhi überwacht worden.
Vajpayee bot noch mehr an. Einige von bin Ladens Männern saßen in indischen Gefängnissen und konnten verhört werden. Indische Truppen hatten Felderfahrung in Afghanistan und wollten bei der Vorbereitung von Einsätzen nützlich sein. Delhi war auch bereit, seinen Luftraum für die Air Force zu öffnen und Auftankanlagen zur Verfügung zu stellen, sollte Präsident Bush darum ersuchen. Doch der ersuchte nicht.
Mit einer an Selbsterniedrigung grenzenden Bereitwilligkeit wiederholte Vajpayee seine Angebote und versuchte hartnäckig, Indien in der Öffentlichkeit als Juniorkriegspartner der USA im "globalen Kampf gegen das Böse" zu etablieren. Washington reagierte höflich distanziert und zeigte wenig Interesse an indischer, um so mehr aber an pakistanischer Kooperation. Für die indische Regierung ein äußerst demütigender Vorgang, weiß man doch, dass Islamabad nicht nur Alliierter der Taleban, sondern vor allem Auftraggeber islamischer Terrorakte gegen Indien war. Diese Tatsache - in der Vergangenheit wieder und wieder mit Dokumentmaterial belegt - wurde offenbar sogar jetzt noch von der US-Regierung ignoriert. Wer in Delhi erwartet hatte, der 11. September habe die USA zum mächtigen Verbündeten des Terroropfers Indien gemacht, sah sich schwer enttäuscht.
Für Präsident Musharraf ein äußerst riskanter Vorgang
Es sei daran erinnert, die schwierige Beziehung zwischen Indien und Pakistan ist das Produkt einer unglücklichen geschichtlichen Entwicklung. Am Anfang steht ein schweres Erbe der britischen Herrschaft: die Teilung des Landes vor seiner Entlassung in die Selbstständigkeit 1947 - nach dem Schnitt durch die Landkarte entlang der ehemaligen muslimischen Mehrheitsprovinzen Britisch-Indiens wird - so Staatsgründer Jinnah - ein "mottenzerfressenes, neues" Land geboren. Geschüttelt von Aufständen und Massakern, wächst in diesem Pakistan ein Gespensterpaar heran, gebildet aus Fundamentalismus und Indienhass. Und in Ermanglung eines besseren Kitts, um die Nation zusammenzuhalten, die hauptsächlich ein "Nicht-Indien" auf der Suche nach eigener Identität bleibt, haben pakistanische Regierungen - demokratische wie diktatorische - jahrzehntelang mit wenigen Ausnahmen dieses Gespensterpaar gehegt und gepflegt.
Zulfikar Ali Bhutto, der progressivste und dynamischste Führer, leitete 1976/77 eine Säkularisierung ein, doch bevor sich das Land aus dem Schatten seiner Gespenster lösen konnte, wurde es unter einer fundamentalistischen Flutwelle begraben. General Zia ul-Haq erhob sich zum Militärdiktator und ließ Bhutto hinrichten, das Land wurde fest an die islamische Kette gelegt - die Gespenster bekamen freie Hand und erwiesen sich mit der Zeit als enorm nützlich für ihre Herren. Und General Zia ul-Haq hatte noch ehrgeizigere Pläne, als eine Militär-Theokratie Pakistan aufzubauen. Er wollte Schritt für Schritt die Kontrolle über das gerade von der Sowjetunion besetzte Afghanistan, diese dann auf Usbekistan und Tadschikistan ausdehnen und schließlich auch Iran und die Türkei einbeziehen. Für die Eroberung Afghanistans fand der General einen potenten, finanzkräftigen Partner: die USA. Was folgte, ist nur allzu bekannt - es entstanden bestens gerüstete, perfekt trainierte Mudschaheddin-Truppen. Osama bin Laden - vom pakistanischen Geheimdienst und der CIA schnell als vielversprechende Führerpersönlichkeit identifiziert - entwickelte sich zu einer Schlüsselfigur.
Ausgerüstet mit einer offiziellen und einer islamischen Schattenarmee für besondere Einsätze, entwickelte Pakistan eine Art "Dr. Jekyll und Mr. Hyde-Spiel", das bald zum Markenzeichen seiner Indien-Politik wurde und sich mehr und mehr perfektionierte. Während Präsident Musharraf zuletzt gemeinsam mit dem indischen Premier Vajpayee in "großer Herzlichkeit" den neuen "Völkerverständigungsbus" zwischen beiden Ländern einweihte, schickte Geheimdienst-General Aziz schwer bewaffnete Fundamentalistentrupps über die Gebirgspässe nach Indien und führte seinen unerbittlichen Grenzkrieg, von dem die offizielle pakistanische Armee selbstverständlich nichts wusste.
Pakistan und die Vereinigten Indischen Staaten
Die US-Militäroperationen in der Region und ein Machtwechsel in Afghanistan werden voraussichtlich die geopolitische Rivalität zwischen beiden Nuklearmächten dramatisch verändern. Schon lange vor der jetzigen Eskalation offerierte eines der Szenarien, das von Strategieplanern der US-Regierung vorgelegt wurde: "Im Jahre 2012 führen die Vereinigten Staaten einen konventionellen Luftangriff mit B-2-Bombern, um die nuklearen Anlagen Pakistans zu zerstören, damit sie nicht in falsche Hände fallen". Damit werde auch die Schlacht um Kaschmir entschieden, hieß es weiter, und ein von Indien unter US-Patronage zerschlagenes Pakistan könne in die Vereinigten Indischen Staaten aufgenommen werden.
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