Diese Präsidentenwahl, ermöglicht durch einen gewaltigen Schutzschirm, den ausländische Truppen vor und nach dem 20. August aufgespannt haben, lässt sich kaum als Triumph der Demokratie feiern. Sie sorgt nicht einmal für einen überzeugenden Sieg des bisherigen Amtsinhabers Hamid Karsai. Der hat zwar gleich in der ersten Runde die Zahlen auf seiner Seite, doch wird sein Anspruch, das Land weiter führen zu dürfen, von massiven Vorwürfen wegen eines gehörigen Wahlbetrugs überschattet. Die Glaubwürdigkeit des gesamten Unternehmens Präsidentenvotum hat darunter zu leiden.
Mit vorgehaltenem Gewehr
Hamid Karsais Sieg hängt am seidenen Faden des Urteils der internationalen Wahl-Beschwerde-Kommission, die einige tausend Einsprü
tausend Einsprüche registriert hat. Die meisten davon haben die Anhänger von Karsais Gegenspieler, des ehemaligen Außenministers Abdullah Abdullah, eingereicht. Doch richten sich keineswegs alle Anzeigen gegen das Karsai-Lager. Sympathisanten des Bewerbers Ashraf Ghani, einst Finanzminister in Kabul, sagen aus, sie seien in den Nordprovinzen mit vorgehaltenem Gewehr zur Stimmabgabe für Abdullah gezwungen worden. Unwiderlegbare Beweise für derartige Praktiken gibt es freilich nicht.Die internationalen Wahlbeobachter haben auf jeden Fall Macht und Mandat, die Wahl teilweise oder ganz zu annullieren und dann einen erneuten Urnengang zu fordern. Hamid Karsais Sieg liegt quasi in ihrer Hand. Aber vieles spricht dafür, dass es angesichts der höchst fragilen Sicherheitslage kaum jemand riskieren wird, Karsai und seine mächtigen Warlords zu verärgern. Stattdessen wird bereits daran gearbeitet, seinen allzu großen Vorsprung „herunter zu handeln” und den im Westen nicht mehr wohl gelittenen Paschtunen vorsichtig und langsam ins Abseits zu schieben. Denn in der nächsten Regierung will das Weiße Haus weder General Dostum noch Muhammad Mohaqeq noch Ismail Khan sehen – die Treusten der Treuen unter den Wahlhelfern und Alliierten Karsais.Trotz eines nicht sonderlich überragenden Ergebnisses schlägt nun also die Stunde des Abdullah Abdullah, der sich auf Wunsch der Amerikaner mit einer Machtteilung anfreunden soll. Ein solches Kooperationsgebot, bereits vor der Wahl von Meisterdealer Karsai abgegeben, verweigert der US-Favorit bisher vehement. Der Unversöhnliche, der sich immer noch als eigentlicher Wahlsieger präsentiert, scheint entschlossen, eine erneute Präsidentschaft Karsais zu torpedieren. Sollten irgendwann die rechtlichen Mittel ausgeschöpft sein, will er Kabul mit einem „iran-ähnlichen Szenario“ beglücken. Ob ihn seine Freunde im Weißen Haus vorher an die kurze Leine legen oder riskieren, dass Afghanistan in einen Strudel aus Protesten und Demonstrationen stürzt, die den Taliban gelegen kämen, wird sich zeigen.Das über Karsai schwebende Damoklesschwert der Straßentumulte muss die Amerikaner nicht unbedingt stören, bietet doch eine anarchische Situation den idealen Hintergrund für General McChrystals verzögerten Revisionsbericht. Es wird erwartet, dass der Oberkommandierende demnächst weitere 45.000 Soldaten fordert, was die amerikanische Präsenz zum Jahresende auf über 100.000 Mann anschwellen ließe. Um eine kriegsmüde Öffentlichkeit in den USA von der Notwendigkeit eines solchen Schubs zu überzeugen, muss viel Dramatik nachgewiesen werden. Ein gesteuerter Machtkampf zwischen Karsai und Abdullah könnte da eine durchaus erwünschte Episode sein.Im weichen UnterleibAuf der anderen Seite braucht Präsident Obama dringend eine legitimierte, US-freundliche Regierung in Kabul, um die Afghanen und ihre Nachbarn zur Billigung seines exorbitanten militärischen „Fußabdrucks” der 100.000 Mann zu bewegen. Karsai und seine Warlords aus der alten Nordallianz in unangefochtener Machtposition – unterstützt von Moskau, Teheran und Delhi – könnten dabei stören, geht es doch darum, den Krieg gegen den militanten Islamismus zu monopolisieren und als Vorlage für eine geostrategische Neuordnung Zentralasiens zu nutzen. Sich im weichen Unterleib Russlands und Chinas auf Dauer einzurichten, schwebt den Amerikaner nicht erst seit dem 11. September 2001 vor.Während die Wahl-Beschwerde-Kommission den Betrugsvorwürfen nachgeht, haben das Weiße Haus und General McChrystal längst begonnen, eine Regierung zu entwerfen, die Obamas AfPak-Strategie vorbehaltlos akzeptiert und den darin vorgesehenen Einsatzes der afghanischen Armee garantiert. Alle Galionsfiguren der Wahl vom 20. August – Karsai, Abdullah und Ghani – sollen mit von der Partie sein, auch wenn noch ungeklärt bleibt, wer welchen Part zu übernehmen hat. Zunächst muss die Verfassung angepasst, das neue Amt eines Premiers geschaffen und das Parlament dafür gewonnen werden.Zur Kontrolle der Modellregierung stellt Afghanistan-Sonderbotschafter Richard Holbrooke gerade ein riesiges Beraterteam zusammen, das die zivile US-Präsenz in Kabul auf etwa 1.000 Spezialisten anheben und eine Art Schattenkabinett rekrutieren soll. Parallel dazu laufen – nicht zuletzt in Pakistan – die Bemühungen auf Hochtouren, möglichst viele Führer der Taliban und anderer Widerstandsgruppen an den Verhandlungstisch und – eventuell – ins Parlament zu bringen. Unterwegs in die afghanische Hauptstadt landete Holbrooke in Islamabad, um Maulana Fazlur Rahman, den Chef der Jamiat Ulema-e-Islam (JUI) und einstigen Oberpaten der Taliban, und Qazi Hussein Ahmad, den Führer der fundamentalistischen Jamaat-i-Islami (JI), zu treffen. Sie sind als Vermittler gefragt.