Die Erschießung des Al-Qaida-Führers wird von eklatanten Ungereimtheiten begleitet, die vermutlich nie aufgelöst werden. Zum Beispiel wäre nach dem Part der pakistanischen Armee und Geheimdienste bei der Killing-Mission zu forschen. Dass es denen entgangen sein könnte, wenn Kampfhubschrauber im Herzen der Garnisonsstadt Abbottabad und fast auf dem Dach der nationalen Elite-Militärakademie landen, ist absurd. Doch ob sie nun – Messer an der Kehle – zum Stillhalten gezwungen waren, wie man zwischen den Zeilen amerikanischer Berichte zu lesen glaubt, oder aktiv zum Gelingen der Operation beitrugen, wie ISI-Direktor Generalleutnant Shuja Pasha beteuert, ist offen. Pakistanische Quellen gehen davon aus, dass Osama bin Laden seit fast zehn Jahren mit Unterbrechungen in dieser Villa lebte und das offenkundig unter dem speziellen Schutz der pakistanischen Generalität. Welchen Grund sollte die nun plötzlich haben, ihren Gast zu verraten?
Die US-Operation in Abbottabad lässt die Affäre um den CIA-Agenten Raymond Davis in einem neuen Licht erscheinen. Als der im Februar von der pakistanischen Polizei festgesetzt wurde, kam es zum schrillen Eklat zwischen Washington und Islamabad. Die geheime Mission des Agenten schien so bedrohlich für Pakistan und so unabdingbar für die USA, dass daran ihre Allianz zu zerbrechen drohte. Genau zu diesem Zeitpunkt nahm die CIA nach vielen Jahren die Fährte bin Ladens wieder auf. Im Februar und März sah man ihn angeblich hektisch durch das Hindukusch-Gebirge diesseits und jenseits der afghanischen Grenze touren. Und die CIA leitete verdeckte Operationen großen Stils ein.
Osama bin Laden muss sich des Risikos bewusst gewesen sein. Ende März warnte er vor einem „nuklearen Höllensturm‘“, den al Qaida im Fall seiner Festnahme entfachen werde. Vermutlich ein Bluff. Um so mehr erstaunten die Eile seiner Mission und die Besuche bei militanten Führern aller Couleur, mit denen er so schnell wie möglich eine breite islamische Allianz zu schmieden gedachte. Auch mit Gulbuddin Hekmatyar, dem die Taliban Mullah Omars misstrauen, seit er direkt mit den USA zu verhandeln sucht.
Ein Geschenk obendrauf
Die große islamische Koalition sprach für eine neue Strategie, mit der al Qaida auf die Aufstände im Nahen Osten und in Nordafrika reagieren wollte. Der Wandel galt als Katalysator, um weltweit wieder eine Rolle zu spielen. Kehrseite solcher Ambitionen waren die Interessen des saudischen Königshauses, das bisher seinem radikaleren Anhang gestattet hatte, bin Laden heimlich zu unterstützen, solange daraus keine Bedrohung für Riad erwuchs. Bin Laden hatte im Gegenzug die arabische Halbinsel in Frieden gelassen – doch ab März sah alles anders aus.
Der Sturz des ägyptischen Präsidenten Mubarak vermochte den Kalten Krieg zwischen Riad und Teheran bedenklich zu erhitzen, sodass die Beziehungen zwischen al Qaida und Iran aus saudischer Sicht zum Störfall wurden. Zugleich war Saudi-Arabien bemüht, Präsident Obama davon abzuhalten, arabische Demokratiebewegungen übermäßig zu fördern. Als probates Mittel zur Kurskorrektur schienen die kürzlich geschlossenen milliardenschweren Rüstungsverträge mit dem Pentagon geeignet, die selbstredend ihren politischen Preis hatten. Ein kleines Freundschaftsgeschenk obendrauf konnte nicht schaden.
Kamen deshalb die Geheimdienstdepeschen über bin Ladens Reisen durch den Hindukusch, die der CIA zugespielt wurden, größtenteils aus Riad, wie es heißt? Jahrelange Unterstützung von Terroristen macht den Unterstützer zum besten Verräter. Sollte das Haus Saud bei der Operation in Abbottabad geholfen haben, wurden bei dieser Gelegenheit zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen – die Amerikaner sind erfreut, Osama bin Ladens Beschützer in Teheran empört.
So sehr die USA ihren Triumph feiern – sie verdanken ihn weit weniger sich selbst als vielmehr den historischen Ereignissen, die zur Zeit die muslimische Welt erschüttern. So gesehen ist bin Laden zwischen das Mahlwerk der Geschichte geraten und zerquetscht worden.
Was nun geschieht? Der Verlust bin Ladens dürfte al Qaida nicht wirklich schwächen. Deren militärische und ideologische Führung liegt längst in neuen Händen. Ohnehin ist die Organisation seit Jahren dezentralisiert und durch den Tod einzelner Führer kaum aus dem Gleichgewicht zu bringen. Zum „nuklearen Höllenfeuer“ wird es nicht kommen, doch sehr wahrscheinlich zu Racheakten, besonders in Pakistan, wodurch alle Friedensbemühungen und Waffenstillstandsabkommen mit unversöhnlichen Gotteskriegern hinfällig wären. Plötzlich könnten sich alle Gewehre auf die pakistanischen Streitkräfte richten. Warum sonst sagen politische Beobachter voraus, dass sich nun der Kriegsschauplatz von Afghanistan nach Pakistan verlagern könnte?
Ursula Dunckern berichtet für den Freitag aus Indien und Pakistan
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