Als am 11. Februar die Redaktion der New York Times die Nachricht erreichte, Mullah Abdul Ghani Baradar, höchster Militärkommandeur der afghanischen Taliban, sei in Karatschi verhaftet, wurde die Meldung erst einmal fünf Tage auf Eis gelegt. Auf Wunsch des Weißen Hauses, wie es hieß. Die Sache sollte geheim bleiben, damit die „äußerst erfolgreichen“ Ermittlungen nicht gestört und die ahnungslosen Taliban nicht gewarnt würden. Seither ranken sich wilde Spekulationen um eine mysteriöse Geschichte.
Die Spur Mullah Omars
Der große Fisch ging dem pakistanischen Geheimdienst ISI ins Netz, als der – einem Wink des CIA folgend – ein Haus in Baldia Town am Rande der Hafenstadt Karatschi durchsuchte. Dass unter den Männern, die sich dort widerstandslos festnehmen ließen, die mächtige Nr. 2 der afghanischen Taliban war, kam angeblich erst nach diversen Recherchen heraus. Dabei ist der 42-jährige Afghane für den ISI kein Unbekannter. Seine regelmäßigen Aufenthalte in Karatschi wurden jahrelang entschlossen übersehen, da man ihn nicht als Gefahr für Pakistans innere Sicherheit empfand, sondern vielmehr als potentiell nützliche Galionsfigur in der afghanischen Taliban-Führung sah. Was veranlasste den ISI, seinen Schützling plötzlich festzunehmen?
Richard Holbrooke, Obamas Sonderbotschafter für Afghanistan und Pakistan, deutet den Vorgang als Zeichen für „vertiefte Kooperation” zwischen Islamabad und Washington. Was ist wirklich passiert, wenn Pakistan nach neun Jahren zäher Verweigerung jählings bereit ist, die Taliban auf dem Altar des amerikanischen Krieges zu opfern? Denkbar wäre ein Deal, bei dem die US-Regierung garantiert, Indiens Einfluss in der Region zu beschneiden und Delhi aus jeder Afghanistan-Lösung zu verbannen. Doch kann Obama dafür bürgen?
Bemerkenswert vage bleiben alle Bulletins, sobald es um Zeitpunkt und Umstände der Festnahme Baradars geht. Die Angaben reichen von „vor Tagen“ bis „vielleicht schon vor längerer Zeit“. Was noch mehr interessiert: Wurde Mullah Baradar danach von ISI- und CIA-Agenten gemeinsam verhört und durch „Waterboarding“ gezwungen, den Aufenthaltsort anderer Kommandeure preiszugeben? Dafür spricht, dass inzwischen hochkarätige Taliban festgesetzt wurden, darunter Mullah Abdul Salam und Mullah Mohammed, die Schattengouverneure der Provinzen Kunduz und Baghlan. Außerdem Osama bin Ladens Vertrauter Abu Musa, der den USA eine Reihe sensationeller Drohnen-Abschüsse im pakistanischen Waziristan bescherte. Faszinierend ist die Frage, ob Baradar amerikanische Vernehmer auf die Spur des bisher „unsichtbaren“ Mullah Omar, des geistlichen Oberhauptes der Taliban, gesetzt hat.
In Islamabad kursiert das Gerücht, der ISI halte Baradar in Gewahrsam und verweigere US-Agenten jeden Kontakt mit dem Gefangenen. Die Festnahme sei ein kühner Schachzug gewesen, mit dem die pakistanische Armeeführung eine Schlüsselfigur aus dem politischen Spiel nehmen wollte. Als Vertrauter Mullah Omars, den er oft als Sprecher des Führungspräsidiums in Quetta vertrat, soll Baradar seit etwa zwei Jahren unter der Ägide Saudi-Arabiens auch US-Emissäre kontaktiert haben. Das wird offiziell dementiert und inoffiziell bestätigt.
Seit einiger Zeit schon zeigen sich hohe pakistanische Militärs erbost darüber, dass Washington immer wieder ihr Angebot ignoriert, Gespräche mit der Taliban-Spitze zu vermitteln, aber zugleich hinter ihrem Rücken auf eigene Faust verhandelt. Mit dem Arrest für den umworbenen Unterhändler könnte es sich um ein taktisches Vorgehen handeln, das darauf zielt, die Position der pakistanischen Generalität zu stärken. Mullah Baradar wäre der Trumpf im Ärmel von Oberbefehlshaber General Kayani, der ihm – wenn über die Zukunft Afghanistans entschieden wird – den beanspruchten Platz am hohen Tisch verschafft.
Von Populzai zu Populzai
Nach anderer Lesart könnte Mullah Baradar auch von den Amerikanern als Joker ins große Spiel geworfen werden. Gelänge es mit seiner Hilfe, den moderaten Teil der Taliban-Führung zu ködern und den Hardliner Mullah Omar zu isolieren, wäre die Nuss geknackt und Washington hätte mit einer zerfallenden Bewegung leichtes Spiel. Allerdings dürfte es Mullah Baradar so ergehen wie vielen prominenten Taliban-Hierarchen vor ihm. In den Hände des Feindes erlischt ihr Einfluss sofort – so regelt es ein strenger Code.
Insofern dürfte ein gefangener Mullah Baradar für die Regierung in Kabul verheerend sein: Präsident Karzais innerafghanischer Friedensplan könnte scheitern, bevor er Terrain gewinnt (möglicherweise war das Hauptzweck der Operation in Karatschi). Für diesen Plan spielte Mullah Baradar eine Schlüsselrolle, und das nicht zufällig, war er doch als einziger hoher Taliban-Führer ein Populzai vom Stamm der Durrani wie Karzai selbst (während sonst fast alle Taliban-Autoritäten zu den seit Jahrhunderten mit den Durranis verfeindeten Ghalzai gehören). Baradar hielt seit Jahren – von Populzai zu Populzai – Kontakt mit Karzais Bruder Ahmed Wali Karzai in Kandahar.
Was die Obama-Regierung nie entzückt hat und auf der Londoner Afghanistan-Konferenz zum Krach führte, war das Ansinnen Hamid Karzais, Mullah Omar zu einer großen nationalen Friedenskonferenz einzuladen. Washington reagierte erbost. So hatte man sich die vielgerühmte „Afghanistanisierung” des Konfliktes nicht vorgestellt. Karzai ließ nicht locker. Zwei Tage, nachdem er in London einen Schlag auf die Finger bekam, wiederholte er ungerührt seinen Wunsch nach der großen Loya Jirga. Die Taliban reagierten gedämpft positiv und versprachen, „bald“ über ihre Präsenz zu entscheiden.
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