Als sei dies ein Vergehen, wurde ihm vorgehalten, mehr Pomologe denn Theologe zu sein. Apfelpfarrer nannten sie ihn, vielleicht wohlwollend, vielleicht aber auch herablassend. Ein Pfarrer, dem das Korsett der katholischen Kirche zu eng war, ein Mensch, der in einer Zeit Mut bewiesen hat, in der es Feigheit brauchte, um ungeschoren zu bleiben.
Korbinian Aigner, Bauernsohn und Pfarrer, 1885 im bayerischen Hohenpolding geboren, begann schon früh, sich für Obst zu interessieren. 1906 trat er ins Priesterseminar ein und widmete sich dem Studium der Theologie. Kurz darauf gründete er zusammen mit dem Weber Franz Hausladen den Hohenpoldinger Obstbauverein. 1911 wurde er zum Priester geweiht und im selben Jahr als Koadjutor nach Ilmmünster entsandt. Gleichzeitig war er Religions
Religionslehrer im Knabenseminar am Kloster Scheyern, und noch bevor er 1931 endlich zum Pfarrer ernannt wurde, wählte ihn der Oberbayrische Obst- und Gartenbauverein zu seinem Präsidenten. Nun liegt das Gesamtwerk des Pomologen Aigner vor, als vierter Band in der von Judith Schalansky betreuten Reihe „Naturkunden“ im Verlag Matthes & Seitz.Komplettiert wird der Band durch ein feinfühliges Vorwort der Kunsthistorikerin und Journalistin Julia VossAber was ist ein Pomologe? „Pomolog schielt zu sehr nach dem Weiblichen“, wurde in einer kirchlichen Akte einmal vermerkt. Das Doppeldeutige seines Interesses an Äpfeln, also an der Frucht der Versuchung und des Sündenfalls, sei am Rande erwähnt. Ohne Zweifel war Aigner die Ironie bewusst, dass er, als katholischer Geistlicher dem Zölibat verpflichtet, sich so sehr für diese im religiösen Sinn verderbliche Frucht begeisterte. Apfel, lateinisch, Malus: das bedeutet zugleich Apfel und Übel. Zu viel Gewicht sollte man darauf aber nicht legen. Wichtiger in Aigners Lebensakte sind jene Vermerke, die seine bodenständige Courage belegen. 1923 besuchte er als Mitglied der Bayerischen Zentrumspartei eine Veranstaltung der NSDAP und hörte Hitler reden. Danach wandte er sich in seinen Predigten gegen die Nazis. Zunächst genügten der Obrigkeit Geldstrafen, 1937 aber wurde er zwangsversetzt.Fehlendes Kerngehäuse„Ich weiß nicht, ob das Sünde ist, was der Attentäter vorhatte. Dann wäre halt vielleicht eine Million Menschen gerettet worden“, bemerkte Aigner im Religionsunterricht nach Georg Elsers Attentat auf Hitler im November 1939 zu seinen Schülern. Eine Mutter zeigte ihn an, noch im selben Monat wurde er abgeholt. Nach mehreren Verlegungen schließlich im KZ Dachau inhaftiert, begann er 1941 zwischen den Baracken, aus eingeschmuggelten Kernen neue Apfelsorten zu züchten. Er nannte sie makabrerweise KZ-1, KZ-2, KZ-3, KZ-4. Eine davon, KZ-3, 1985 umbenannt in Korbiniansapfel, ist bis heute erhalten.Man stellt sich vor, wie er viel Kraft aus dem Wunsch gezogen haben mag, seine Schösslinge dereinst blühen, die Bäume Früchte tragen zu sehen. Wie er die jungen Pflanzen gießt und täglich deren Wachstum beobachtet, wie er sich über neue Blätter freut, während alles um ihn herum weniger wurde, zertreten wurde von der entsetzlichen Brutalität der Zeit! Im April 1945 gelang Aigner die Flucht. Nach dem Krieg blieb er Seelsorger und widmete sich bis zu seinem Tod 1966 weiterhin dem Obstbau – und dem Zeichnen von Apfelsorten.So ist denn Korbinian Aigners eigentliches Vermächtnis die Sammlung seiner Apfel- und Birnenbilder, scheinbar wissenschaftlicher Darstellungen von Äpfeln und Birnen. Allzu sehr hat er sich aber nicht an die Konventionen akademischer Erfassung gehalten; das Kerngehäuse fehlt fast immer, oft weicht die Größe von einem einheitlichen Maßstab ab. Und die Sortennamen sind, als seien sie ihm nicht wichtig gewesen, zumeist von fremder Hand und mit Bleistift auf der Rückseite flüchtig hingekritzelt. Angaben etwa zur Wirtschaftlichkeit der einzelnen Sorten sucht man vergebens, und da kein einziges der Bilder datiert ist, weiß man nicht, wann Aigner begonnen hat, sie zu malen. Manchmal ist oben links das Pflückdatum vermerkt. Die Nummerierung schließlich erfolgte vermutlich erst nachträglich, sie erscheint willkürlich, ja beinahe sinnlos.Auf dem Tisch liegen zweieinhalb Kilo Buch. So schwer ist der aufwendig hergestellte Prachtband im Folio-Format (21 x 33 cm). Wie jeder einzelne der vier Naturkunden-Bände ist er großartig bibliophil arrangiert. Ein fadengehefteter Halbleineneinband in reifstem Apfelrot, dazu der beige Kopfschnitt und die geprägte Schrift auf zartgrauem Grund, darunter zwei rote, runde Äpfelchen: all das macht das Buch zu einer Kostbarkeit, in dem nun also erstmals sämtliche erhaltenen Zeichnungen in farbigen Drucken versammelt sind.Für die SchülerKorbinian Aigners Apfel- und Birnenbilder bewegen sich an der Grenze zwischen Wissenschaft und Kunst. Hier ist jemand, dessen „Kunst“ so dermaßen unschuldig anmutet, weil ihm der Gedanke, seine Bilder könnten Kunst sein, wohl ganz fernlag. Jegliche Inszenierung entfällt, und so scheint die Idee von Kunst in Aigners Bildern – vordergründig nicht frei genug von den formalisierten Regeln wissenschaftlicher Darstellung, um Kunst zu sein, aber zu eigenwillig immerhin, um Wissenschaft zu sein – beinahe exemplarisch verwirklicht.Die Bilder entstanden auf den Rückseiten von kartonierten Aktendeckeln, die Aigner in immer derselben Postkartengröße beschnitten hat. Mit Wasserfarben, Buntstift oder Gouache malte er darauf seine Äpfel und Birnen. Die Porträts vermitteln eine Kraft, der sich kaum ein Betrachter entziehen kann; so war es im Rahmen der dokumenta 13, auf der Aigners Bilder ihren ersten Auftritt als „Konzeptkunst“ hatten, so ist es auf den Tafeln des vorliegenden Werks. Auf stille Weise rühren die Bilder an, bewegen, irritieren. Einfach scheinen sie, ohne jede Eitelkeit gemacht. Alles deutet darauf hin, dass Aigner nie mit einer Publikation gerechnet hat. Wahrscheinlich hat er die Tafeln nur gemalt, um Bilder für seine Schüler zur Verfügung zu haben. Oder sich mit jeder einzelnen Zeichnung insgeheim gegen die Verderblichkeit gewehrt; fast tausend Mal frisches Obst. Rot, rötlich, gelblich, grünlich, gestreift, gefleckt, gepunktet, glatt glänzend oder matt. Meist paarweise angeordnet, Ober- und Unterseite zeigend, manche einzeln, wie leuchtende Exoplaneten durch düster-dunkelblauen Raum fahrend.Er hat Früchte gemalt, die gern schnell faulen. Sammler einer grotesken Beschwörung von Glück, indem er dessen Vergänglichkeit unermüdlich zu bannen versucht? Vielleicht aber war Aigners Passion der schlichte Ausdruck dessen, wie jemand der Angst begegnet. Wie jemand sich auf ganz persönliche Weise das Überleben sichert.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.