Im März 2002 beendete Julia Timoschenko alle Mutmaßungen um ihren Zopf. Auf einer Pressekonferenz von kritischen Journalisten danach befragt, löste die schöne Julia kurzerhand die Haarnadeln und zeigte wenig später der erstaunten Öffentlichkeit frohgemut ihre wallende Haarpracht. In der Fotogalerie ihrer Homepage ist dieses Ereignis auf vier Fotos dokumentiert. Auf dass die kritischen Geister für immer schweigen mögen: Der Zopf ist echt!
Wie die Frisur der deutschen Bundeskanzlerin hat offensichtlich auch jene der ukrainischen Ex-Premierministerin reichlich öffentliches Interesse hervorgerufen. Im Gegensatz zu Angela Merkel zeigt sich Julia Timoschenko jedoch deutlich einsatzbereiter. Sie wechselte die Haarfarbe (von schwarz über brünett zu blond) und Haarlänge (von kurz zu lang) und tritt seit einigen Jahren mit eben jenem geflochtenen und kunstvoll um den Kopf gelegten Zopf als Verkörperung des ukrainischen weiblichen Nationalcharakters auf. Mit ihrem Zopf, der in den längst vergangenen Zeiten die Haartracht der jungen Damen des städtischen ukrainischen Bürgertums war, demonstriert Julka, wie Timoschenko von der ukrainischen Bevölkerung plump-vertraulich genannt wird, dem Wahlvolk: Seht, ich bin eine von Euch! Ihr Zopf ist Reminiszenz an die Traditionen der heute um nationales Bewusstsein ringenden Ukraine, und da er ja nun bewiesenermaßen echt ist (wie war das noch mal mit den nicht-gefärbten Haaren Gerhard Schröders?), muss denn auch die Trägerin dieses Zopfes echt und ohne Falsch sein. So die Botschaft der folkloristischen Maskierung Julia Timoschenkos.
Die Frage drängt sich auf: Gibt es eine Korrelation zwischen politischer Laufbahn und Frisur? Das Jahr vor besagter Pressekonferenz war ein Jahr der einschneidenden Veränderungen im Leben der Julia Wladimirowna Timoschenko. Im Januar 2001 vom damals amtierenden Präsidenten Leonid Kutschma als Vizepremierministerin aus dem Kabinett Juschtschenko entlassen, fand sich die ehemalige Gasprinzessin und bis heute wohl reichste Frau der Ukraine knapp einen Monat später im Untersuchungsgefängnis wieder. Die Anklage wegen Schmuggels und Steuerhinterziehung wurde jedoch schnell wieder fallengelassen, nach sechs Wochen war Timoschenko wieder frei.
Ende 2001 bereitete Timoschenko ihre Rückkehr in die Politik vor. Mit dem Block Julia Timoschenko, dessen Abkürzung BJUT, erweitert zu "beauty", die Spitzenkandidatin treffend charakterisiert, will sie bei den Parlamentswahlen 2002 erfolgreich sein. Sie gibt sich als aufrechte Streiterin gegen Korruption und Machtmissbrauch, die auf Seiten der Bevölkerung für Gerechtigkeit und Ordnung im Lande kämpft. Und sie zeigt sich erstmals mit dem mittlerweile legendären Zopf. Die Frage also ist beantwortet: Es gibt eine Korrelation zwischen politischer Laufbahn und Frisur. Zumindest bei Julia Timoschenko.
Im Winter 2004 erschüttert eine Revolution die Ukraine und katapultiert den zweitgrößten Flächenstaat Europas ins Bewusstsein des Westens. Angeführt von den Oppositionspolitikern Julia Timoschenko und Viktor Juschtschenko, dem "Traumpaar der Orangenen Revolution" demonstrieren Hunderttausende auf dem Majdan, dem Platz der Unabhängigkeit im Zentrum Kiews, gegen das "Kutschma-Regime" und dessen dreiste Politik der Wahlmanipulationen und des Parteiklüngels. Dankbar nehmen Bevölkerung und Medien die Rolle der "Seele der Orangenen Revolution", die Julia Timoschenko spielt, auf, und sie wird neben dem von den Folgen einer Vergiftung gezeichneten Viktor Juschtschenko zur Ikone und Leitfigur der Unzufriedenen.
Ende März 2006 stehen in der Ukraine erneut Wahlen an. Durch die Verfassungsreform, die im Januar in Kraft trat und die präsidiale Demokratie in eine parlamentarische umwandelte, sind die diesjährigen Parlamentswahlen von mindestens ebenso großer Bedeutung wie die Präsidentschaftswahl im Jahr 2004. Rechtzeitig dazu haben die beiden Journalisten Ilia Milstein und Dmitri Popov ein Buch über die schillerndste Figur der ukrainischen Politik vorgelegt. Ein "Politthriller", so die Verlagsankündigung.
Für die beiden Autoren begann Timoschenkos politische Laufbahn Mitte der neunziger Jahre. Ihr Aufstieg ist exemplarisch für die Perestroika-Generation, die "mit dem Stift in der Hand die neuesten Erlasse und Gesetze (studierte), wo unter den abgedroschenen Propagandaformeln die neueste Losung der Gorbatschow-Zeit hindurchschimmerte: Bereichert Euch!"
In den frühkapitalistischen Zeiten der zusammenbrechenden Sowjetunion zur ersten Million in harter Valuta gelangt, zeichnen Milstein und Popov das Bild einer erfolgreichen Unternehmerin nach, die mit ihrem Gaskonzern den nationalen Energiemarkt beherrschte und Milliarden umsetzte. 1996 trat sie erstmals bei Parlamentswahlen an und erreichte ein Ergebnis, das an alte Zeiten erinnerte: Mit 92,3 Prozent zog sie als Abgeordnete in die Werchowna Rada ein. Sie übernahm den Vorsitz des Haushaltsausschusses und wurde 1999 von Präsident Kutschma zur Vizepremierministerin unter Regierungschef Juschtschenko mit Zuständigkeit für den Treibstoff- und Energiesektor ernannt. In dieser Funktion machte sie sich unter ihren Kollegen nicht viele Freunde, und dies führte auf direktem Weg zu ihrem Hinauswurf aus dem Kabinett und ihrer Verhaftung im Jahr 2001. Kurze Zeit später, nach dem Sturz Kutschmas im Gefolge der Affäre um den Journalisten Georgij Gongadse, nach dem Erfolg der Orangenen Revolution tauchte sie als Premierminsisterin an der Seite des neuen Präsidenten Juschtschenko auf. Doch auch dieses Traumpaar trennte sich im Streit.
Milstein und Popov geben anhand eines Porträts Julia Timoschenkos eine Zustandsbeschreibung des politischen Systems der Ukraine, in dem vieles für den Beobachter aus dem Westen zumindest befremdlich wirkt. Die Bewertungen und Interpretationen der Autoren von Gegenwart und Vergangenheit Julia Timoschenkos und des politischen Lebens in der Ukraine können sicher kritisch hinterfragt werden, doch kann man sich ihnen wohl in großen Teilen anschließen. Den Vorwurf der Spekulation kann man den Autoren also sicher nur bedingt machen. Trotzdem hinterlässt das Buch ein gewisses Unbehagen, das in der Natur des gewählten Genres begründet liegt. Romanbiographien sind eine heikle Angelegenheit. Will man denn wirklich wissen, welche Gedanken die Autoren der im Untersuchungsgefängnis einsitzenden Protagonistin unterstellen? In diesem Buch steckt einfach zu viel Thriller und zu wenig Analyse. Zu viel Stereotypes, zu viel "Man sagt", "Es heißt", "Will man Gerüchten Glauben schenken". Die Autoren verzichten auf Quellenangaben und Bibliographie, und das Buch enthält trotz der Bekundung des Verlages, es sei auf Grundlage von "vielen Gesprächen mit Julia Timoschenko" entstanden, keine Originalzitate. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die tagespolitische Sensation Hauptgrund der Veröffentlichung ist.
Zweifellos bietet das Polittheater der Ukraine genügend Stoff für einen Thriller. In der postsowjetischen Gegenwart der Ukraine (und anderer Staaten), in der Politunternehmer ihr Mandat vor allem zur Sicherung ihrer Pfründe nutzen (und Julia Timoschenko stellt da sicher keine Ausnahme dar: die Autoren bezeichnen ihren Einstieg ins Politbusiness als "kostspielige, wenn auch unbedingt notwendige geschäftliche Investition"), ist der Weg zur Demokratie noch weit. Gerade deshalb hätte man eine nüchterne Analyse vorgezogen.
Es bleibt abzuwarten, ob Julia Timoschenko demnächst wieder Premierministerin der Ukraine sein wird. Die politische Stimmung im Land ist umgeschlagen, populistische Wahlgeschenke Timoschenkos wie die Erhöhung der Renten und Sozialausgaben konnten die Bevölkerung nur kurz überzeugen. Die Ironie der Geschichte will, dass in Umfragen nun Viktor Janukowitsch führt, den Kutschma 2004 als trojanisches Pferd auf den Präsidentensessel hieven wollte, um seine Macht zu sichern. Das orangene Lager ist zerstritten, und es wird sich zeigen, ob das einstige Traumpaar im Poker um die Macht wieder zusammenfindet. Viele Sympathien in der Bevölkerung haben sie jedoch verspielt. Der Zopf ist ab, könnte man sagen.
Ilia Milstein, Dmitri Popov: Julia Timoschenko. Die Zukunft der Ukraine nach der Orangenen Revolution. Originalausgabe. Aus dem Russischen von Helmut Ettinger. DuMont, Köln 2006, 250 S., 18,90 EUR
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