Zum ersten Mal im Leben hat Schurik Nein gesagt. Dies führt zwar zum - absehbaren - Selbstmord einer seiner zahlreichen von ihm nicht sehr geliebten Geliebten, doch ist dies der erste Schritt zu seiner Emanzipation. Von den Vorstellungen und Wünschen der Frauen, denen er hilflos ausgeliefert ist, und denen er immer alles recht machen will. Ob er sich letztlich tatsächlich von ihnen befreien kann, bleibt indes der Phantasie des Lesers überlassen. Denn das Nein des Protagonisten steht fast am Ende des Romans von Ludmila Ulitzkaja.
Wie so oft in Ulitzkajas Werken geht es auch in Ergebenst, euer Schurik um das Verhältnis der Geschlechter zueinander. Sie zeichnet es mit umgekehrten Vorzeichen. Der Protagonist Alexander Alexandrowitsch Korn, genannt Schurik, ist ein Mann,
ik, ist ein Mann, der den Frauen gefällt. Sie wählen und wollen ihn, und er, bei dem "Mitleid und männliches Begehren an derselben Stelle" sitzen, tut, was von ihm erwartet wird. Als Handwerker, Bote und Liebhaber steht er den Frauen zur Verfügung. Aus Pflichtgefühl.Aufgewachsen als uneheliches Kind der gescheiterten Schauspielerin Vera Alexandrowna Korn im von der resoluten Großmutter Jelisaweta Iwanowna Korn geführten Frauenhaushalt, ist der wohlerzogene Schurik von Kindheit an darauf konditioniert, dem weiblichen Geschlecht zu Diensten zu sein. Nie gab es mit dem Jungen Probleme. Bis zum 14. Lebensjahr ist sein liebster Zeitvertreib das "Vorlesen" der Großmutter, die ihm so erst die Werke der russischen Schriftsteller und dann die Werke der Weltliteratur lieben lehrt. Schuriks Großmutter, Dozentin für französische Literatur, lebt die Traditionen der liberalen russischen Intelligenzia, einer in der Sowjetunion der Nach-Stalin-Ära fast nicht mehr existierenden Welt. Sie versucht, den Enkel "zu einem richtigen Mann zu erziehen: verantwortungsbewusst, fähig zu eigenständigen Entscheidungen, selbstbewusst". Der Versuch scheitert. Zumindest in Bezug auf das weibliche Geschlecht ist Schurik nur ein einziges Mal fähig zur eigenen Entscheidung. Seine Jugendliebe Lilja, die nach dem Schulabschluss mit den Eltern nach Israel emigriert (die Liebe der beiden ist damit gescheitert), ist die einzige Frau, die Schurik selbst wählt. Alle anderen wählen ihn, und er lässt es geschehen.Er verliert dabei nicht den Überblick (damit der Leser ihn nicht verliert, ist dem Buch ein Lesezeichen mit den Namen aller Geliebten beigelegt) und schafft es, auch mehrere Verhältnisse zeitgleich nebeneinander zu haben. Denn er ist den Frauen durchaus verbunden. Aber er liebt eben keine von ihnen, wie einer seiner Freunde zutreffend bemerkt.Beim Wiedersehen Schuriks mit seiner Jugendliebe zwölf Jahre nach der Trennung - Lilja hat auf einem Flug nach Japan einige Stunden Aufenthalt in Moskau - ist Schurik fast 30, lebt immer noch in der mütterlichen Wohnung. Als sie wieder im Flugzeug sitzt, ist Lilja froh, ihn nicht geheiratet zu haben. Und Schurik begreift nach den Stunden mit Lilja, dass die Abhängigkeit der Frauen von ihm durchaus gegenseitig ist. Und macht sich zum ersten Mal von dieser Abhängigkeit frei, indem er Nein sagt. Doch als die verrückte Alte, der er das Paket übergibt, das Lilja aus Jerusalem mitgegeben worden war, ihn bittet, ihr eine Häkelnadel zu besorgen, sagt er vermutlich doch wieder Ja.Ulitzkajas Roman ist nicht nur eine Erzählung vom schwachen Geschlecht Mann, sondern auch so etwas wie eine Alltagsgeschichte der Sowjetunion. Die Handlung spielt in den Jahren 1955 bis 1985, und mit Rückblenden wird auf die Zeit davor Bezug genommen.Auf die Politik jedoch verweist Ulitzkaja nur wie beiläufig in Nebensätzen. Sie macht dies kunstvoll und lakonisch zugleich. Die Revolution des Jahres 1917 erscheint durch die Augen der Großmutter Jelisaweta Iwanowna als unangenehme Folge des Todes ihres Mannes. Wie fast jede Familie in der Sowjetunion ist auch die Familie Korn von den Wirren der Revolutionsjahre und der Menschen verschlingenden Stalin-Zeit betroffen. Eine der Stieftöchter Korn emigriert als Gegnerin der neuen Ordnung im Jahr 1924, die andere - ganz der neuen Macht zugetan - kommt trotzdem in einem Stalinschen Lager ums Leben. Doch werden diese und andere Details nur der Vollständigkeit halber erwähnt. Sie sind in diesem Roman nicht das Wichtigste. Schurik und die Seinen interessieren sich nicht für Politik. Sie leben in einer Parallelgesellschaft, in der ihre eigenen Werte zählen. Höflichkeit, Anstand und Sorge für den anderen.Schurik ist ein Kind seiner Zeit. Zu jung, um die Atmosphäre jener kurzen Periode des Tauwetters nach Stalins Tod zu atmen, gehört er nicht jener Generation der rebellierenden Jugend in der Sowjetunion der sechziger Jahre an, den "Schestidesjatniki", die sich gegen die Obrigkeit auflehnten und oft teuer dafür bezahlen mussten. Schurik zählt zu jener Mehrheit der Bevölkerung, die sich den Gegebenheiten des Lebens in der Stagnation der Breschnew-Ära, als sich das Schweigen wie Mehltau über die Gesellschaft legte, anpasst und mit dem System arrangiert, ohne groß darüber nachzudenken.Ulitzkaja zeichnet ihre Figuren, den schwachen Schurik und vor allem die ihn umgebenden starken Frauen, mit Sympathie und oft ironisch-augenzwinkernd. Sie verurteilt Schuriks Unfähigkeit Nein zu sagen nicht. Von Ganna-Maria Braungardt in bewährter Manier aus dem Russischen übersetzt, erzählt Ulitzkaja nicht nur von Schurik und seinen Frauen, sondern zeichnet ein Sittengemälde der Sowjetunion der Breschnew-Ära. Einer Epoche, von der man hierzulande viel zu wenig weiß.Ljudmila Ulitzkaja: Ergebenst, eurer Schurik. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. Hanser, München 2005, 496 S., 24,90 EUR
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