Es ist unsere Pflicht, alle Angelegenheiten, die mit dem Missbrauch der Macht zusammenhängen, sorgfältig und allseitig zu klären", mahnte Nikita Chruschtschow auf dem 22. Parteitag der KPdSU. "Solange wir arbeiten, können und müssen wir vieles klarstellen und der Partei und dem Volk die Wahrheit sagen."
Mit ausdrücklicher Billigung des Parteichefs erschien 1962 in der Novembernummer der renommierten sowjetischen Literaturzeitschrift Nowy mir der Roman Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch. Das minutiöse Protokoll eines ganz gewöhnlichen Tages im Januar 1951 von insgesamt 3653, die der Häftling Nr. Schtsch 854 in einem der unzähligen Straflager der Sowjetunion unter Stalin abzusitzen hat. Ein guter Tag, an dem er nicht im Bunker landet, nicht krank wird, sich Tabak organisiert und eine Extraportion Kascha ergattern kann. "Der Tag war vergangen", protokolliert der Autor, "durch nichts getrübt, fast glücklich."
Die Veröffentlichung erregte spektakuläres Aufsehen. Nüchtern und schonungslos schilderte Alexander Solschenizyn in seinem ersten Roman den Alltag in den stalinistischen Lagern, den er aus eigenem Erleben kannte. Nach Abschluss seines Studiums der Mathematik und Physik war der am 11. Dezember 1918 in dem nordkaukasischen Kurort Kislodowsk geborene Solschenizyn 1941 in den Zweiten Weltkrieg eingezogen worden und hatte als Hauptmann der Roten Armee als Chef einer Schalmesstruppe gekämpft. Sein Vater war ein russisch-orthodoxer Bauer, seine Mutter Tochter eines ukrainischen Gutsbesitzers. Aufgrund einer schlecht verhüllten Kritik an Stalin in einem Brief wurde er im Juli 1945 zu acht Jahren Straflager verurteilt und danach "auf ewig" nach Kasachstan verbannt.
Nach Chruschtschows berühmter Rede auf dem 20. Parteitag im Februar 1956, mit der er die Periode des Tauwetters nach der stalinistischen Unzeit einleitete, konnten Tausende aus Lagerhaft und Verbannung heimkehren. Auch Solschenizyn wurde rehabilitiert. Er arbeitete als Mathematiklehrer in der zentralrussischen Provinz und begann, seine Erinnerungen niederzuschreiben.
Begierig verschlangen die Leser in der Sowjetunion den Bericht über den Zimmermann Iwan Denissowitsch Schuchow. Auch die offizielle Literaturkritik war zunächst des Lobes voll und verglich Solschenizyn mit den beiden großen sozialkritischen Autoren des 19. Jahrhunderts - Lew Tolstoi und Fjodor Dostojewski. Als der Schriftsteller zwei Jahre nach der Veröffentlichung allerdings für den Lenin-Preis, die höchste Auszeichnung für ein literarisches Werk, nominiert wurde, sah er sich zunehmend massiven Angriffen von Seiten der Stalinisten ausgesetzt. Solschenizyns Iwan Denissowitsch sei "eine ideologisch und künstlerisch umstrittene Arbeit" hieß es nun in einer Parteizeitschrift.
Im Oktober 1964 wurde Chruschtschow abgesetzt und die Sowjetunion nach dem kurzen Tauwetter wieder von einer Frostperiode erfasst. Solschenizyns Schriftstellerkarriere in der Sowjetunion war beendet. 1966 wurde zum letzten Mal eine Erzählung von ihm veröffentlicht. Seine Romane Im ersten Kreis und Krebsstation, beide ebenfalls autobiographische Abrechnungen mit dem Stalinismus, die bereits in der Redaktion der Zeitschrift Nowy mir zur Publikation vorbereitet wurden, konnten nur noch durch die illegale Verbreitung des "Samisdat" in die Hände und das Bewusstsein der sowjetischen Leser gelangen und erschienen 1968 in einem der zahlreichen kleinen Verlage des "Tamisdat" im Westen.
Den Nobelpreis für Literatur, mit dem der in seiner Heimat verbotene Schriftsteller 1970 ausgezeichnet wurde, konnte Solschenizyn nicht persönlich entgegennehmen. Wie bereits zwölf Jahre zuvor bei Boris Pasternak bezeichneten die sowjetischen Machthaber die Entscheidung des Nobelkomitees als "politisch feindlichen Akt" und verweigerten dem unbotmäßigen Autor die Ausreise. Vier Jahre später wurde Solschenizyn aus der Sowjetunion ausgebürgert. Seit 1958 hatte er, basierend auf eigenen Erfahrungen und Augenzeugenberichten von über zweihundert Personen, die erste Gesamtdarstellung des sowjetischen Lagersystems zusammengetragen. Verzweifelt war in der Sowjetunion zu verhindern versucht worden, dass "über alles berichtet werden wird". Der Geheimdienst konfiszierte einen Teil des Manuskripts von Archipel GULag, das der Autor aus Sicherheitsgründen an verschiedenen Orten aufbewahrte. Solschenizyns Leningrader Bekannte Jelisaweta Woronjanskaja, die das Manuskript heimlich auf ihrer Schreibmaschine für den Schriftsteller abgetippt hatte, verriet nach viertägiger Befragung, durch das KGB das Versteck und beging danach Selbstmord. Dennoch gelang es dem Regime nicht, Solschenizyns Buch, sein "Denkmal für alle Gemordeten und zu Tode Gemarterten", zu unterdrücken. Im Dezember 1973 erschien in Paris der erste Band von Archipel GULag. Zwei Monate später wurde Solschenizyn verhaftet. Die Anklage lautete auf Landesverrat. Einen Tag nach seiner Verhaftung musste der Schriftsteller seine Heimat verlassen. Aufnahme fand er zunächst bei Heinrich Böll in Köln. Nach einem halben Jahr konnte Solschenizyns zweite Frau Natalja mit den drei Söhnen folgen. Nach zweijährigem Aufenthalt in Zürich ließ sich Solschenizyn mit seiner Familie schließlich im US-Staat Vermont nieder.
Solschenizyns Archipel GULag schlug im Westen wie ein Sprengsatz ein und beeinflusste das Bild der Sowjetunion nachhaltig. Gleichwohl ließ der Dissident sich auch im Exil von niemandem vereinnahmen und bewahrte seine Unabhängigkeit. Ebenso rigoros wie zuvor die politischen Repressionen in der Sowjetunion kritisierte Solschenizyn den Materialismus der westlichen Welt und irritierte damit viele seiner einstigen Weggefährten.
In seiner zwanzigjähriger Emigration arbeitete Solschenizyn vor allem an seinem historischen Zyklus Das rote Rad, in dem er anhand der Ereignisse der Jahre zwischen 1914 und 1922 die Geschichte, "wie die Russen selbst sich die eigene Vergangenheit und die eigene Zukunft zerstörten" zu beschreiben suchte. Das auf zwanzig Bände zu je tausend Seiten angelegte Monumentalwerk blieb indes unvollendet, der unermüdliche Chronist kapitulierte vor der Übermacht des Materials.
Nachdem unter Gorbatschow die Aberkennung der sowjetischen Staatsangehörigkeit rückgängig gemacht und die Anklage wegen Landesverrats aufgehoben worden war, konnte Solschenizyn 1994 nach Russland zurückkehren. Triumphal wurde seine Rückkehr gefeiert, die er in einer mehrwöchigen, von vielen Journalisten begleiteten Reise durch das veränderte Land inszenierte. Als Präsident Jelzin ihm zur Anerkennung seiner Verdienste den Staatspreis verleihen wollte, lehnte er diese Auszeichnung ab. Erst im Jahr vor seinem Tod nahm er den Preis aus den Händen des einstigen Geheimdienstoffiziers Wladimir Putin entgegen. Ein Paradoxon der russischen Geschichte.
Auch nach seiner Rückkehr nach Russland blieb Solschenizyn ein umstrittener Autor. Mit derselben Beharrlichkeit, mit der er einst die stalinistischen Verbrechen gebrandmarkt hatte, kritisierte er nun die fehlgeleitete Reformpolitik und die soziale Verelendung der Bevölkerung. Sein Ideal eines auf Orthodoxie und Gemeinsinn gegründeten Russlands indes wurde als rückwärts gewandt und unzeitgemäß aufgefasst. Seine Gegner sahen in ihm einen "lebensfremden Reaktionär", der sich in großrussischen Nationalismus verrannte. Sein letztes Werk, Zweihundert Jahre zusammen, eine Dokumentation über das Zusammenleben von Russen und Juden trug nicht eben dazu bei, manches Missverständnis seiner Äußerungen zu entkräften, sondern brachte ihm zu allem noch den Vorwurf des Antisemitismus ein, da er in dieser Dokumentation, die heutigen historischen Kriterien kaum genügen kann, in dem überproportionalen Anteil von Juden unter den kommunistischen Spitzenfunktionären den Grund für den Oktoberumsturz des Jahres 1917 und die Folgen auszumachen glaubte.
Das Gesamtwerk Alexander Solschenizyns umfasst 30 Bände. Mit seinem "Versuch einer künstlerischen Bewältigung" des Archipel GULag hat er Geschichte geschrieben und einen bedeutenden Beitrag zur russischen Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts geleistet. Heute gilt der einstige Dissident in seiner Heimat als einer "der größten Denker, Schriftsteller und Humanisten des 20. Jahrhunderts". Mit seinem Tod endet eine Epoche, von der er in seinen Werken trotz aller Widerstände furchtlos Zeugnis ablegte.
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