In einem Moskauer U-Bahn-Tunnel kaufte ich von einem arbeitslosen Geologen vier aufrollbare Karten. Ihre gesamte Spannweite betrug 2,20 Meter und umfasste alle Zeitzonen der ehemaligen Sowjetunion. Von Kaliningrad im Westen bis zur Behringstraße bei Alaska." Mit dem Kauf dieser Karten beginnt für den eben in Moskau angekommenen Korrespondenten einer großen niederländischen Zeitung die Suche nach der Bucht Kara-Bugas. Gerade hatte er das gleichnamige Buch von Konstantin Paustowski aus dem Jahr 1932 gelesen und als ehemaliger Student der Hydrotechnologie interessiert sich Frank Westermann für alle Phänomene, die mit Wasser zu tun haben. Doch auf den neu erworbenen Karten aus dem Jahr 1991 ist die an der Küste des Kaspischen Meeres gelegene Bucht, deren Name
ame übersetzt "Schwarzer Schlund" lautet, nicht verzeichnet. Handelt es sich um eine literarische Fiktion Paustowskis? Oder um eine kartographische Manipulation? Um das Rätsel der Bucht von Kara-Bugas zu ergründen, begibt sich der Autor auf eine Erkundungsreise durch die ehemalige Sowjetunion und durch die Sowjetliteratur.Die Zeit des Übergangs vom alten Russland zur neuen Sowjetrepublik ist eine Zeit, in der fast alles möglich scheint. Doch schon bald zeigt das neue Regime sein wahres Gesicht. Mitte der 1920er Jahre beginnt die Unterwerfung der Kunst unter die Kontrolle der neuen Machthaber. Nach dem Erlass des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei vom 23. April 1932 werden alle Künstlervereinigungen in der Sowjetunion aufgelöst und die gesamte Kulturarbeit der Partei unterstellt. Zwei Jahre später wird auf der "historischen" Versammlung des Schriftstellerverbandes der sozialistische Realismus zur einzigen Methode der sowjetischen Kunst erklärt. Bei "Genosse Stalin" werden die Schriftsteller zu "Ingenieuren der Seele", die die von der Partei gesteuerte Arbeit der Massen mit ihren Werken ebenso unterstützen sollen wie die Ingenieure und Architekten, die Hydrologen und Elektrotechniker, "die die physikalische Wirklichkeit über einen sozialistischen Leisten schlagen".Sie sind nicht nur Zeugnisse der mit "orientalischer Despotie" gewaltsam durchgesetzten Industrialisierung des rückständigen Agrarlandes, Symbole der jungen Sowjetunion, sondern auch Bestandteile der sowjetischen Kulturgeschichte mit ideologischer Bedeutung, die den praktischen Nutzen bisweilen verdrängt.Schriftsteller preisen in ihren Werken die Errungenschaften der revolutionären Entwicklung. Exemplarisches Werk für die neue Literaturdoktrin wurde das unter der redaktionellen Leitung von Maxim Gorki im Januar 1934 erschienene Buch mit dem eindrucksvollen Titel: Belomor, die Baugeschichte des nach J. W. Stalin benannten Kanals zwischen dem Weißen Meer und der Ostsee. In einer Zeit, in der die junge Sowjetunion hungert, macht sich eine von Gorki zusammengestellte Delegation von 120 Schriftstellern im August 1933 auf zur Großbaustelle des Kanals. Die Chronisten der sozialistischen Geschichte reisen in einem "Vorgeschmack auf den vollendeten Kommunismus" aufs fürstlichste bewirtet in speziell für sie reservierten Waggons. Das eigens für den Kanalbau errichtete Straflager erstrahlt in den schönsten Farben, man zeigt sich beeindruckt vom Speiseplan für die Gefangenen. Die Frage, ob diese die angegebene Tagesration auch tatsächlich erhalten, scheint sich niemand zu stellen. Renommierte Schriftsteller werden durch ein potemkinsches Dorf geführt. Wie schon vier Jahre zuvor Gorki selbst, der kurz nach seiner Rückkehr aus der Emigration den ersten Gulag der Sowjetunion auf der Klosterinsel Solowki besucht hatte, lassen sich die Schriftsteller von dem, was ihnen vorgeführt wird, blenden. Sie sehen nichts von den unmenschlichen Bedingungen der Gefangenen, die Tausenden das Leben kosten.Keine 200 Kilometer vom nördlichen Polarkreis entfernt, wurde der 227 Kilometer lange Belomor-Kanal in nur 20 Monaten von über hunderttausenden Gefangenen förmlich mit den Händen aus dem Boden gekratzt. Der Kanal ist nicht nur Symbol des ersten Fünfjahresplans der Sowjetunion, die erreichen will, was den früheren Herrschern nicht gelang (schon Peter der Große hatte von einer Verbindung zwischen dem Weißen Meer und der Ostsee geträumt), sondern auch Chiffre für das Prinzip der "Perekowka", der "Umschmiedung" von "Konterrevolutionären" und Kriminellen, die in Straflagern zu neuen sozialistischen Menschen geformt werden sollten. Die Arbeit im Straflager als Bewährungsprobe für dem Sozialismus feindliche Elemente.Am Ende seiner Zeitreise durch die Sowjetunion und ihre Literatur findet Frank Westermann endlich auch die Bucht von Kara-Bugas. Begleitet von einem ortskundigen Fahrer begibt er sich unter den Blicken des allgegenwärtigen Porträts des Präsidenten Turkmenbaschi auf Kurs zu jener Bucht, die auf seinen Karten nicht verzeichnet ist. Nach seiner Reise durch die Karakum-Wüste Turkmenistans ist das Rätsel der von den Karten verschwundenen Bucht gelöst. Sie existiert. Doch für zehn Jahre, von 1982 bis 1992, war sie "wie vom Erdboden verschluckt". Schon im Jahr 1921 hatte sich Lenin für die Bucht von Kara-Bugas interessiert, an deren Stränden sich das "Wundersalz" Natriumsulfat, ein wichtiger Grundstoff verschiedener Industriezweige, ablagert. Einige Jahre später wird der Sulfatabbau in der Bucht von Kara-Bugas industrialisiert, die ebenso wie der Belomor-Kanal ein Vorzeigeprojekt des ersten Fünfjahresplans wird. Die sowjetischen Naturdompteure unterwerfen die Natur, bis diese sich ihnen widersetzt. Als die Förderung des begehrten Sulfats aufgrund des Raubbaus zurückgeht, wird der zuvor ausgezeichnete Genosse Direktor Jakow Rubinstein unter Anschuldigung konterrevolutionärer Tätigkeit im Chemiewerk verhaftet und im August 1938 zum Tode verurteilt. Im Zusammenhang mit der "Perebroska", der Umlenkung ganzer Flußläufe zur Bewässerung wasserarmer Gebiete der Sowjetunion, wird die Bucht von Kara-Bugas 1980 durch einen Damm vom Kaspischen Meer abgetrennt. Mit fatalen Folgen für das ökologische Gleichgewicht der Region. Es kommt zu einem Fisch- und Vogelsterben, die Bucht trocknet aus und verschwindet von der Landkarte. Im Frühjahr 1992 wird der Damm unter dem neuen Präsidenten der nunmehr unabhängigen Republik Turkmenistan abgerissen. Die Kartographen müssen sich erneut an die Arbeit machen und die Bucht von Kara-Bugas wieder in den Karten verzeichnen.Das Jahr 1934, in dem das Buch über den Belomor-Kanal erschien, war auch das Jahr der Ermordung des Leningrader Parteichefs Sergej Kirow, mit der der stalinistische Massenterror begann. Die dem Mord folgenden Massenverhaftungen und Schauprozesse, mit denen sich der paranoide Stalin seiner politischen Gegner entledigte, griffen schon bald auf die Kulturpolitik über. Viele der Sowjetschriftsteller erlitten ein ähnliches Schicksal wie der Direktor des Chemiewerks der Bucht von Kara-Bugas. Nachdem das Buch über den Belomor-Kanal 1937 aus den Bibliotheken entfernt wurde, da dort auch von nunmehr unbotmäßigen Personen berichtet wird, wurde offenbar, dass man einer Maschinerie des Terrors ausgeliefert ist, die nach irrwitzigen Methoden arbeitet und vor der niemand sicher sein kann.Frank Westermann hat sich von den "Erwartungen und Sehnsüchten einer eigenständigen Generation von Sowjetschriftstellern mitreißen lassen" und die fesselnde Schilderung seiner Erkundungsreisen reißt den Leser bei der Lektüre mit. Auch wenn der deutschen Ausgabe des bereits hoch gelobten und ausgezeichneten Buches etwas mehr editorische Sorgfalt zu wünschen gewesen wäre - so vermisst man die Angabe dazu, wer für die Übersetzung der russischen Originalzitate verantwortlich zeichnet -, leistet der Autor, der ganz bewußt keine heutigen Bewertungskriterien anlegt, doch einen bemerkenswerten Beitrag zur ewigen Frage nach Schuld und Verstrickung des Einzelnen im diktatorischen System. Westermann läßt die Fakten sprechen und entzaubert so die sowjetischen Heldenmythen und Allmachtsphantasien, an denen die postsozialistische Gesellschaft bis heute trägt.Frank Westerman: Ingenieure der Seele. Schriftsteller unter Stalin. Eine Erkundungsreise. Aus dem Niederländischen von Verena Kiefer und Gerd Busse. Ch. Links, Berlin 2003, 288 S., 19,90 EUR
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