Auch angesichts der deutsch-russischen Verbrüderungspolitik, die keine Kritik am gegenwärtigen Kurs Russlands laut werden lässt, wagten beim letzten Deutschlandbesuch von Wladimir Putin im Dezember 2004 einige wenige, das Thema Tschetschenien auf die Tagesordnung zu bringen. Der Präsident beschied ihnen auf einer Pressekonferenz schnöde, es gäbe keinen Krieg, Proteste seien somit überflüssig und die Demonstranten könnten ruhig nach Hause gehen und Weihnachten feiern. Diskussion beendet. Nächste Frage.
Der Krieg in Tschetschenien ist nicht der einzige Sprengsatz, den Putin mit herablassendem Lächeln zu entschärfen sucht. Demokratische und rechtsstaatliche Normen, unzureichende Lage der Menschenrechte, mangelnde Pressefreiheit und al
eit und allumfassende Korruption sind Themen, die westliche Politiker dem russischen Präsidenten gegenüber nur selten offen ansprechen.Die neue Veröffentlichung von Anna Politkovskaja indes zeigt, dass diese Fragen so aktuell sind wie kaum je zuvor. Nach ihrem international ausgezeichneten Buch Tschetschenien. Die Wahrheit über den Krieg (2003) berichtet die Journalistin nun über das Leben im System der Demokratur, der von Putin installierten "gelenkten Demokratie". Sie versteht ihr Buch nicht als "Analyse der Putin-Herrschaft", sondern sie erzählt in "emotionalen Randnotizen" anhand vieler Einzelfälle vom Leben im heutigen Russland. Diese Geschichten hinterlassen einen bedrückenden Eindruck.Zum Beispiel Tanja. Die einst von der Familie der Schwiegereltern Gedemütigte stieg zur superreichen Businessfrau auf und demütigte dann die angeheiratete Verwandtschaft. Sie kaufte deren Wohnung, renovierte sie nach neuestem europäischen Standard und kommandierte schließlich die Schwiegermutter. Dann wollte sie noch reicher werden. Der Weg dazu führte über das Moskauer Stadtparlament, in dem sie heute sitzt und sich für Obdachlose einsetzt, denn das ist gut fürs Image. Der wahre Grund für ihre politischen Ambitionen jedoch ist eine ganz simple Sparmaßnahme des von ihr geleiteten Unternehmens: sie wollte einfach keine Bestechungsgelder mehr an die Abgeordneten zahlen.Oder Mischa. Einer von vielen Verlierern der Perestroika. Ein hoch begabter Junge, mit hervorragenden Sprachkenntnissen und Abschlüssen, der irgendwann die Kurve nicht gekriegt hat. Er wurde zum Säufer, Bettler und Totschläger. Eine der vielen Figuren wie aus Dostojewskis Romanen, die heute Russland bevölkern. Irgendwann gab er sich auf und warf sich vor die Metro.Oder Rinat. Vom Regimentskommandeur erniedrigt, verließ er die Armee und ist womöglich jenen Weg gegangen, den viele ehemalige Armeeangehörige beschreiten. Sie wissen, wie man tötet. Und dieses Wissen ist im heutigen Russland immer gefragt.Auch in diesem Buch ist der Tschetschenien-Konflikt das Hauptthema Politkovskajas. Sie beschreibt, wie die "korrupteste Justiz der Welt" Kriegsverbrechen verhandelt und ihre Berichte werden zum Gleichnis über das Rechtssystem des neuen Russland, in dem die Menschen als Schräubchen im Getriebe der neuen Macht "über keinerlei Rechte verfügen".Zum Beispiel Juri Budanow. Der Oberst der Streitkräfte der Russischen Föderation hatte im März 2000 ein tschetschenisches Mädchen vergewaltigt und ermordet. Der Prozess gegen ihn, der sich über drei Jahre hinzog, wurde zum "Symbol unserer Zeit". Zunächst lief alles auf Entlastung des Angeklagten hinaus. Ein voreingenommener Richter, der keinen Zeugen zu Wort kommen lässt, der den Angeklagten belasten könnte. Ein Staatsanwalt, der die Interessen des Angeklagten verteidigt, statt jene des Opfers zu wahren. Und eine von staatlich kontrollierten Massenmedien manipulierte öffentliche Meinung, die auf Demonstrationen die "Freiheit für den Helden Russlands" fordert.Eine Psychiatrieprofessorin, die sich in den Jahren der Stagnation unter Breschnew zum Instrument der Unterdrückung von oppositionellen Meinungen durch zwangspsychiatrische Einweisungen von Dissidenten gemacht hatte, erkannte auf Unzurechnungsfähigkeit Budanows für den Zeitpunkt der Tat. Aufgrund dieses Gutachtens war der Oberst von der strafrechtlichen Verantwortung befreit und konnte sogar weiter in der Armee dienen. Erst auf massiven Druck aus dem Ausland, auch aus Deutschland, wurde das skandalöse Urteil Anfang 2003 vom Obersten Gericht aufgehoben. Was laut Politkovskaja jedoch keineswegs ein Zeichen für eine unabhängige Justiz ist, da das Oberste Gericht seit langem als "Abteilung der Präsidialverwaltung gilt". Ein Jahr vor der Präsidentschaftswahl schien es eben opportun, den Schein des Rechtsstaats zu wahren. Politkovskajas Fazit ist ernüchternd: "Drei Jahre lang führte uns der Budanow-Prozess vor Augen, dass es kein unabhängiges Gericht gibt. Stattdessen aber Gerichtsverfahren im politischen Auftrag, bestimmt von der schnelllebigen politischen Konjunktur."Seit Putins Machtantritt im Jahr 2000 wird das Rad der Geschichte in Russland stetig zurückgedreht. Die unter Gorbatschow und Jelzin begonnene Demokratisierung der Gesellschaft wird ausgebremst von einer von oben gesteuerten "Vertikale der Macht". Der an die Spitze des Staates aufgestiegene einstige Oberstleutnant des Geheimdienstes duldet keine Machtansprüche von anderer Seite, wie auch der Fall des inhaftierten russischen Ölmagnaten mit politischen Ambitionen Chodorkowski zeigt.Gerade einmal ein Jahr nach seiner Wiederwahl im März 2004 sucht Putin schon jetzt nach Wegen, auch nach Ablauf der zweiten Amtszeit, nach der er nicht mehr für das Präsidentenamt kandidieren darf, im Zentrum der Macht zu bleiben. Zu erreichen ist dies nur durch eine Verfassungsänderung. So geschehen bereits in den autoritär regierten ehemaligen Sowjetrepubliken Zentralasiens. Viel Widerstand wird dem Präsidenten bei diesem Projekt wohl nicht entgegenschlagen, ist doch die russische Staatsduma seit den letzten Parlamentswahlen, bei denen die Putin-Partei Einiges Russland die Zwei-Drittel-Mehrheit errang, faktisch zu einem Teil von Putins Machtvertikale geworden.Politkovskajas düstere Reportagen illustrieren diese Entwicklung Russlands, in der die Rechte des Einzelnen immer weniger wert sind. Sinnbild dafür ist der "antiterroristische Terror", der seit den Geiselnahmen im Moskauer Musiktheater Nord-Ost und in Beslan "zu einem wesentlichen Teil unseres Lebens in Russland geworden" ist, wie die Autorin schreibt. Die Obrigkeit verhöhnt die Gefühle der Überlebenden und Angehörigen der Opfer und ignoriert ihre Forderungen nach Aufklärung über die Hintergründe der desaströsen Befreiungsaktionen. Dass die staatlichen Untersuchungskommissionen die Wahrheit ans Licht der Öffentlichkeit bringen werden, darf bezweifelt werden."Eine politische Eiszeit bricht an. Keine Anzeichen für Tauwetter", so die niederschmetternde Quintessenz des Buches. Unüberhörbar der Verweis auf die Geschichte. Und doch sind die zahlreichen Stalinismus-Vergleiche Poltikovskajas überzogen. Auch wenn vieles in Putins Russland rechtsstaatlichen Normen nicht entsprechen mag, hilft eine relativierende Gleichsetzung wenig. Gefragt ist ein nüchtern wachsamer Blick auf die weitere Entwicklung Russlands. Kritische Stimmen wie die der engagierten Journalistin Politkovskaja sind dabei so wichtig wie selten zuvor.Anna Politkovskaja: In Putins Russland. Übersetzt aus dem Russischen von Hannelore Umbreit und Ulrike Zemme. DuMont Köln 2005, 314 S., 19,90 EUR