Wenn ich Nachrichten aus Rußland bekomme, wundere ich mich immer noch, was für ein Vieh und Lump der Mensch sein kann. Eine solche Hemmungslosigkeit gibt es nur in Rußland. Ein alter französischer Aristokrat hat mir gesagt: Ihr Russen seid entweder totale Sklaven oder Anarchisten, darum werdet ihr noch lange keine Freiheit haben.« - Dieses Zitat Iwan Bunins, der im Jahr 1933 als erster russischer Schriftsteller den Literaturnobelpreis erhielt und 1958 im französischen Exil starb, scheint bis heute Gültigkeit zu besitzen. So zumindest der Eindruck, den die Lektüre des neuen Werkes von Anatoli Pristawkin hinterläßt. Schon der Titel, Ich flehe um Hinrichtung, deutet an, dass dieses Buch nicht als Bettlektüre geeignet ist - die
ist - die alptraumhaften Bilder des Beschriebenen könnten den Leser bis in den Schlaf verfolgen.Pristawkin nennt das Genre dieses Buches »Weinen um Russland«. Er schreibt sich frei von den Eindrücken seiner zehnjährigen Tätigkeit als Vorsitzender der Begnadigungskommission des russischen Präsidenten. Unerbittlich schildert er so manches grauenerregende Detail unvorstellbarer Verbrechen. Zitiert aus Protokollen von Verhören, aus Urteilen und Briefen von Gefangenen und ihren Angehörigen. Macht sich Gedanken über Verbrechen und Strafe in Russland und sucht nach Erklärungen für die Verrohtheit auf beiden Seiten, die ihm aus den Akten entgegenschlägt. Und lässt den Leser ratlos zurück.In den bisher erschienen Werken verarbeitete der 1931 geborene Pristawkin die traumatischen Erlebnisse seiner Kindheit, die er in den sowjetischen Waisenhäusern und Kinderkolonien der Stalinzeit verbracht hat. Sein erster Roman Schlief ein goldenes Wölkchen, der 1989 im Verlag Volk und Welt in deutscher Übersetzung erschien und später unter dem Titel Kinder des Sturms verfilmt wurde, schildert die Evakuierung von Moskauer Waisenkindern in den von Stalin brutal entvölkerten Kaukasus im Jahr 1944 und ist Pflichtlektüre für russische Schüler. »Ein Buch von gewaltiger poetischer und emotionaler Kraft, ein Buch, wie es ein Schriftsteller nur einmal im Leben schreiben kann«, so der Übersetzer Thomas Reschke. Auch im zweiten Roman Wir Kuckuckskinder, der 1992 mit dem deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde, und in der Erzählung Der Soldat und der Junge ist das Erlebte für Pristwakin Ausgangspunkt des literarischen Schaffens.Seine Biographie machte ihn zum engagierten Kämpfer für die Menschenrechte und gegen die Ungerechtigkeit, wofür der heute 71-Jährige im vergangenen Jahr mit dem »Aleksandr-Men-Preis« ausgezeichnet wurde. Preisträger vor ihm waren unter anderen keine Geringeren als Lew Kopelew und Michail Gorbatschow. Der Namengeber dieses der Vermittlung zwischen Russland und Deutschland gewidmeten Preises, der gemeinsam von russischen und deutschen Institutionen verliehen wird, der russisch-orthodoxe Erzpriester Aleksandr Men, wurde 1990 unter nicht geklärten Umständen ermordet. Vermutlich war es ein politischer Mord, denn Men, dessen religiöse Schriften in den siebziger und achtziger Jahren im Ausland gedruckt werden mussten, war eine Hassfigur der extremen Rechten.1991 wurde Pristawkin von Boris Jelzin zum Vorsitzenden der Regierungskommission für Begnadigungsfragen berufen. »Ich hatte keine Ahnung, was das bedeutet. Es bedeutet aber dies: der tägliche und qualvolle Versuch, einzudringen in die Geschicke anderer Menschen, von Häftlingen. Wobei noch nicht klar ist, wer in wen eindringt. Eher sie in uns«, so Pristawkin in der Vorbemerkung zu seinem neuen Buch.Gegen alle Widerstände stellt er eine Kommission zusammen, der vor allem Intellektuelle, Schriftsteller und zu Sowjetzeiten verfolgte Regimegegner wie Bulat Okudschawa, Fasil Iskander und Lew Rasgon sowie zwei Geistliche, Schüler und Nachfolger Aleksandr Mens, aber auch Juristen und Psychologen angehören werden. In den folgenden Jahren bearbeiteten die Mitglieder Tausende von Fällen, stritten oft lange über die Empfehlung, die dem Präsidenten vorgelegt werden sollte, bei dem die Entscheidung über die Umwandlung der Todesstrafe in eine langjährige Haftstrafe oder die Reduzierung einer Freiheitsstrafe liegt. Im Jahr 2001 wurde die Kommission durch Putin aufgelöst, Pristawkin berät nunmehr die dezentralen Kommissionen, die an deren Stelle traten und ist einer der Berater Putins. »Das sind alles Gegner der Todesstrafe. Wo sind die Befürworter?« bekommt Pristawkin zu hören, als er seine Liste der künftigen Kommissionsmitglieder vorlegte. Befürworter gebe es in Russland leider genug - so seine Antwort.Offiziellen Angaben zufolge wurde die Todesstrafe in Russland zuletzt 1999 vollzogen. Mit der Vollmitgliedschaft im Europarat im Jahr 1996 ging die Russische Föderation die Verpflichtung ein, die Todesstrafe entsprechend der Europäischen Menschenrechtskonvention abzuschaffen. Doch im Gegensatz zu Staaten wie der Türkei, die vor zwei Jahren zumindest die teilweise Abschaffung der Todesstrafe gesetzlich ratifizierte, wurde die Verfassungsänderung in Russland auf unbestimmte Zeit verschoben. Was Wunder, ist doch die große Mehrheit der russischen Bevölkerung für die Anwendung drakonischer Strafen, fast die Hälfte gar für öffentliche Hinrichtungen. Ausdruck dessen ist ein offener Brief an Putin, der als Gegner der Todesstrafe gilt, in dem so prominente Zeitgenossen wie der Schachweltmeister Anatolij Karpow vor einem Jahr die Aussetzung des Moratoriums forderten, das den Vollzug der Todesstrafe bis auf weiteres verbietet.Die Umwandlung der Todesstrafe in eine Haftstrafe ist jedoch nicht unbedingt eine Gnade. »Ich bin verurteilt zur Erschießung, nicht zur Einzelhaft, und ich bitte Sie, meinen Antrag auf unverzügliche Vollstreckung meines Urteils zu prüfen«, so endet das »Gnadengesuch« eines zum Tode Verurteilten, aus dem Pristawkin zitiert. Ursache für diesen unfassbaren Hilfeschrei ist die entmenschlichte Situation in den überfüllten mittelalterlichen russischen Gefängnissen, in denen unterernährte Häftlinge Infektionskrankheiten wie Tuberkulose, Hepatitis und Cholera ausgesetzt sind und sich einer brutalen Häftlingshierarchie unterwerfen müssen. Menschenrechtsverletzungen und Folter im Vollzug sind an der Tagesordnung, und so ist eine lange Haftstrafe ein Tod auf Raten. Immerhin ist mit der Übertragung der Zuständigkeit für den Strafvollzug vom Innenministerium auf das Justizministerium im Zuge der russischen Justizreform ein Schritt in Richtung rechtsstaatlicher Standards getan, da hiermit ein Relikt des zaristischen und sowjetischen Polizeistaatssystems endlich abgeschafft wurde.Die Gründe für die allseitige Gewalt und Alltagskriminalität sieht Pristawkin vor allem im »Suff«, in der »nationalen Tragödie«, dass »praktisch alle« überall »alles nur Denkbare« in sich hineinschütten - vom Wodka über Eau de Cologne bis hin zum Glasreinigungsmittel - um ihrer von Armut, Korruption und Perspektivlosigkeit geprägten Situation im postsowjetischen Riesenreich zu entgehen. Pristawkin führt Untersuchungen an, denen zufolge 35 Prozent der zum Tode Verurteilten an schwerem Alkoholismus litten und ebenso viele zum Zeitpunkt der Tat psychisch krank gewesen seien - fast drei Viertel aller zum Tode Verurteilten seien also zumindest zeitweise unzurechnungsfähig gewesen.Die »drei Grundgewohnheiten« der russischen »nationalen Mentalität« - der Hass gegenüber der Arbeit, der Suff und das Stehlen - liegen, so Pristawkin, im »besonderen Entwicklungsweg« Russlands begründet. Er zeigt die Kontinuität der Geschichte von Iwan dem Schrecklichen über Peter den Großen bis zum Archipel Gulag auf, die Russland in »Blut und Grausamkeit« versinken ließ. Der »russische Alltag, der seit eh und je auf die Sklaverei eingerichtet ist«, bot aufklärerischen Reformversuchen, wie sie die als Katharina die Große in die Geschichte eingegangene Prinzessin Sophie Auguste von Anhalt-Zerbst versuchte, keine Chance auf Verwirklichung.»Dieses Buch handelt nicht nur von Häftlingen, von Menschen, die in der Todeszelle sitzen. Es handelt von uns allen, von jedem, der eingeschlossen ist in das kriminelle Straflager, das Russland heißt«, sagt Pristawkin und steht damit in der Tradition Solschenizyns, der das sowjetische Lagersystem und die entsetzlichen Lebensbedingungen dort geschildert hatte.Das Buch Pristawkins, der seine Überlegungen über das Wesen Russlands an vielen Einzelfällen exemplarisch darstellt, hinterlässt einen bedrückenden Eindruck, auch wenn die Argumentation mit Stereotypen wie »russische Schlamperei«, das »Phänomen des russischen Menschen« und »russische nationale Mentalität« bisweilen befremdlich wirkt. »Mit Grausamkeit ist die Grausamkeit in Russland nicht zu bekämpfen. Obwohl wir das mit der Sturheit von Geisteskranken weiterhin tun«, klagt er, der an seiner Grundüberzeugung der Notwendigkeit christlicher Barmherzigkeit keinen Zweifel lässt, sein Land an. Das Geschilderte jedoch lässt dem Leser wenig Hoffnung auf eine baldige Überwindung der Verhältnisse - so bleibt nur das Weinen um Russland.Anatoli Pristawkin: Ich flehe um Hinrichtung. Die Begnadigungskommission des russischen Präsidenten. Aus dem Russischen von Renate und Thomas Reschke. Luchterhand, München 2003, 384 S., 24 EUR
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.