"Ich bin ein nicht zu unterschätzendes Kleinunternehmen" sagt Tanja, "von mir leben nicht nur Ärzte, Physio- und Psychotherapeuten und Heilpraktiker, sondern auch die Angestellten der Krankenkassen, Abrechnungs- und Beratungsstellen, Statistiker, die medizinische Forschung, Krankenschwestern und dick und fett die Pharmaindustrie." Tanja sitzt auf einer Bank im Gelände des Berliner Virchow-Klinikums, den linken Arm hält sie vorsichtig gestreckt, damit den Schläuchen, Beuteln und der Spritze, die der Immunhämatologe noch für die Folgebehandlung stecken ließ, nichts passiert. Mit dem freien Arm blättert sie in den Vorbereitungen und Kostümentwürfen für eine Was ihr wollt-Inszenierung, die auf den diesjährigen Ruhrfestspielen gezeigt wird. Sie grinst und sieht heute mit ihren neuerdings fast schwarzen Haaren aus wie Patti Smith, sehr blass, sehr dünn und sehr erfinde-dich-selbst.
In den zwei Jahren, die ich Tanja kenne, hat sie sich häufig verwandelt, mal damenhaft und elegant ausgesehen, mal junk-chic wie jetzt. Ihr Auftreten ist immer überraschend, oft beeindruckend, und egal wie dunkel es zeitweise ist, bleibt es das der Tochter aus gutem Hause. Dem entspricht auch ihre Liebe zu allem Exklusivem. Mit dem Glamour-Status von Epilepsie ist sie d´accord, -"Cäsar, Napoleon und Alfred Nobel waren Epileptiker, ich bin also in guter Gesellschaft".
Mit Tanja kann man 100 Stunden darüber reden, welche Krankheit die faszinierendste sei. Sie hat ihre top five; Kriterien sind dabei "super kompliziert" und "elend teuer". Auf der Homepage des Epilepsiemuseums Kork erfahre ich, dass solch unterschiedlich assoziierte Berühmtheiten wie Jeanne d´Arc und Rudi Dutschke Epileptiker waren und ertappe mich dabei, wie ich in die ehemals heilige Krankheit einen Kurzschluss genialischer und damit eventuell hyperaktiver Gehirne hineinspintisiere. Dutschke jedenfalls starb während eines Anfalls in der Badewanne - seine Epilepsie war Folge der Schussverletzung.
Auch bei Tanja ist die Epilepsie "Zweitkrankheit"; sie ist Resultat und Nebenwirkung ihrer großen Krankheit. Aber sie ist es, die das tägliche Leben bestimmt - durch Anfälle oder die Angst davor. Schwer zu sagen, was schlimmer ist. Der Anfall hört wieder auf, die Angst vor dem nächsten nie. Tanja spricht von Panikattacken, die sie manchmal tagelang daran hindern, aus dem Haus zu gehen, die ihr das U-Bahn Fahren schwer bis unmöglich machen, weil "die Gleise so eine komische magnetische Anziehung haben", und ihr von einer Sekunde auf die andere den Atem nehmen. Es sind genau die Zustände, die ungezwungene Abendessen unter Freunden, an denen sie teilnimmt, ganz schnell aussehen lassen wie eine Versammlung von Autisten, alle werden steif und blass und hilflos - lemurenhaft. Denn plötzlich ist die Angst da, und zwar für alle, ein Gespenst ist sie. Tanja kennt es, sie ist damit allein, egal ob wir da sind oder nicht. Für uns andere hat sie unterschiedliche Gesichter, vielleicht ist es die konkrete Angst vor dem nächsten epileptischen Anfall oder die diffuse Angst vor den Bildern, Geräuschen und Gerüchen, dem ganzen Spektakel der Krankheit und der eigenen Hilflosigkeit davor.
Angst, Angst, Angst, das lähmt. Um dem etwas entgegenzusetzen, um sich zu wehren, hat Tanja schon alle möglichen Strategien ent- und wieder verworfen. Jetzt hat sie ein Stück darüber geschrieben, Part of everybody-knows heißt es und geht von 70 fotografischen Selbstporträts aus, die sie - soweit noch in der Lage dazu - während solcher Zustände von sich selbst geknipst hat. Die Kamera der Regisseurin nimmt das Gesicht der Patientin auf. Haben Sie es gern authentisch? Dann freuen Sie sich mal nicht zu früh, denn präsentiert werden die Bilder nicht mit Geschichten aus dem Nähkästchen, selbst wenn es sich hier definitiv um eine Home-Story handelt. Tanja ist die Frau auf der Bühne, die zusammen mit dem Publikum die Bilder von einer Frau ansieht, die das selbe Gesicht hat, ein Gesicht aber in Angst : "She tries to give things name, hopes to talk it away".
Die Versuche, der Angst einen Namen - und damit eine Grundlage zu geben, hören sich so an: "Das ist das Bild einer Frau, die aufwacht und merkt, sie ist unsichtbar. Und hier, da macht sie die Türe auf und sieht sich von lauter uniformierten Männern umstellt, die ihre Gewehre auf sie richten. Dieser Frau hier hat der Arzt gerade gesagt, dass sie Brustkrebs hat. Sie schaut fern und sieht eine Ratte über ihre Bettdecke laufen. Diese Frau macht jetzt gleich ihren ersten Bungee-Sprung."
Neben ihrer anstrengenden Eigenschaft als Dauerpatientin ("Ich will jetzt langsam mal dafür bezahlt werden!"), und ihrem derzeitigen Brotberuf als Kostümbildnerin ist Tanja Regisseurin und Performerin, außerdem die Gattin eines Mitglieds der britischen Performance-Gruppe Forced Entertainment. Tanja hat Robin bei einem Workshop im Rahmen ihres Regie-Studiums an der Folkwangschule in Essen kennen gelernt. Die beiden teilen die Liebe zu einer Theaterform, in der selbst gewählte Fragen von selbst gestellten Antworten abgelöst werden. Und weil man nichts so genau beschreiben kann und man nichts so wenig versteht wie das eigene Leben, unternehmen die beiden immer wieder den Versuch, jemand anderes und gleichzeitig sie selbst zu sein. Ihre Performance-Stücke ignorieren jede Klimax, sie verweigern die Anerkennung eines dramatischen oder sonst wie gearteten Höhepunkts, sind aber, wie auch die letzte Produktion (Headscissors mit Esther Röhrborn) aufgrund ihrer tragikomischen Eigenschaft so kurzweilig wie anrührend.
In ihrer eigenen Biografie hingegen gibt es dieses große Drama, den traumatischen Kern. Robin hat dieses Ereignis in die Linse einer Videokamera hinein erzählt, er beschreibt das Chaos und den Horror der Erlebnisse mit dem ihm eigenen Sinn fürs Anschauliche: "Vier Monate nach unserer Hochzeit hat Tanja mich auf eine Tournee nach Prag begleitet, wir haben Quizoola gespielt", als Tanja umfiel, weil eine kleinfingerdicke Ader in ihrem Hirn platzte, sie fiel hin, von Krämpfen erschüttert, schlug sich dabei die Zähne aus; Stunden später erwachte sie halbseitig gelähmt in einer Prager Klinik. Tschechische Krankenhäuser scheinen trutzburgartig von ihrer Umwelt abgeriegelt zu sein, so dass der sonst so höfliche Brite Robin gegen Türen rempeln, Nachtschwestern den angehaltenen Aufzug wegschnappen und sich durch verbotene Flure schleichen muss, um zu seiner Frau zu kommen. Die, inzwischen wieder bei Bewusstsein, hat keinerlei Diagnose erhalten. Als sie entscheiden, sofort nach Deutschland zurückzufahren, erweist sich die Klinik als in beide Richtungen undurchdringlich - kommt keiner rein, kommt keiner raus. Warum denn nicht? Erst mal Bares, ach so, okay. Kein Kleingeld für die Intensivstationskosten dabei, Bankomat. Spricht hier denn keiner englisch? Nein, keiner, kein bisschen englisch. Also Hände und Füße: Robin braucht eine Bank. Er bedeutet der Pförtnerin: Können Sie mir den Weg zu einem Bankautomaten aufzeichnen? Die Unerbittliche schaut ihn an, als sei er "completely mad" und zeichnet ihm das Bild eines Bankautomaten auf.
Zurück in Deutschland lag Tanja "in Watte verpackt" erst einmal eine Woche lang auf der Intensivstation; die Diagnose hatte schnell festgestanden, Sinusvenenthrombose. Wahrscheinlich ausgelöst durch eine hoch dosierte Kortisonbehandlung bei unerkannter Kortison-Unverträglichkeit. Das Kortison hatte sie wegen ihrer Multiplen Sklerose (MS) bekommen. Die MS behält Tanja normalerweise für sich, weil sie findet, das sei zu viel, man will ja niemanden fertig und mundtot machen, sie grinst wieder. Nach der Wattewoche "oder mehr oder zwei oder drei, ich weiß das nicht" war es ziemlich schwierig, zurückzukommen; sie fand es zwar selbst komisch, auf dem Flur nach Minuten erst die Klopapierrolle in der fühllosen Linken zu entdecken, aber der Aufwand und die zahllosen Versuche, die es sie kostete, eine Telefonnummer richtig zu wählen, empfand sie bald als katastrophal. Als sie nach zehn Tagen den ersten Spiegelkontakt hatte, merkte sie "wie scheiße ich aussehe". Denken Sie sich Chrissie Turlington zehn Kilo leichter und die Zähne weg. Mit dem Gewicht gehen auch die Muskeln weg und so schob sich Tanja, 29 Jahre jung, mit dem Gehwägelchen durch die Flure der Erlanger Universitätsklinik, um ihr Tagessoll zu erreichen - das heißt, bis zum Frühstücksbuffet zu kommen und ein Brötchen zu belegen. Der Arzt trat hinzu und sagte, sie leide an Apraxie. Apraxie bedeutet nach dem Fremdwörterduden "... die durch zentrale Störungen bedingte Unfähigkeit, sinnvolle und zweckmäßige Bewegungen auszuführen". Deshalb die Schuhcreme in der Hand am Buffet?
Das ist jetzt einige Jahre her. Tanja hat immer noch Angst vor "Apraxie im ganzen Leben", es nicht zu schaffen, sich zu überfordern, gegen die Erschöpfung anzukämpfen, all die sinnvollen und zweckmäßigen Bewegungen auszuführen, die der Wieder-Einstieg ins Berufsleben und der eigene Anspruch ihr abverlangen. Sie konnte über fast vier Jahre so gut wie gar nicht arbeiten und braucht dafür jetzt ein Höchstmaß an Organisation und Disziplin. Jeder Auftritt, jeder Auftrag außerhalb Berlins muss bereits Wochen vorher so gelegt werden, dass Infusionstermine direkt davor und danach stattfinden können und der Medikamentenkoffer bereit ist. Die am Theater so übliche Selbstausbeutung, das Arbeiten bis zum Umfallen, sind Dinge, die Tanja sich nicht leisten kann. Kein langes Aufbleiben, kein Trinken, sich gehen lassen; die Disziplin hat sie, weil ihr nichts anderes übrig bleibt, nicht weil sie zu ihr passt. Ihr Organisationstalent und ein gesunder Pragmatismus helfen dabei: Im Anhänger ihrer Kette trägt sie kein Kindheitsfoto und auch keine Haarlocke, sondern eine Dosis Valium, ebenso im Anhänger von Schlüsselbund, man weiß ja nie: "Valium muss man immer dabei haben, das wirkt bei mir wie Speed." Ihre Binden gegen die MS-bedingte Blasenschwäche bringt sie in klitzekleinsten Täschchen und in knallengen Klamotten unter und mit dem ihr eigenen Hang zur Übertreibung behauptet sie, "jede Toilette in Berlin" zu kennen. Ihre nächste Anschaffung wird ein Gehstock mit silbernem Knauf sein - "Fisch, Vogel, oder einfach nur Form?" -, ein Zeichen, das Erklärungen unnötig macht und den aufrechten Gang der Tanja Dorian Knauf erhält.
Das Video, auf dem Robins Erzählung aufgezeichnet ist, ist (noch) nicht veröffentlicht, aber es gehört mit zum Anrührendsten und Wahrhaftigsten, was man qua Dokumentation erfahren kann. Die beiden sind mitgenommen durch den Zusammenbruch, fast durchsichtig sitzen sie nach Tanjas Entlassung aus der Klinik im Haus ihrer Eltern und gehen immer wieder in minutiös kleinen Schritten den erlittenen Wahnsinn durch, wie um sich selbst vom Schock in die (neue) Wirklichkeit zu befördern, die Dinge erzählbar und lebbar zu machen und schließlich, um die Freunde mitzunehmen. Und gleichzeitig feiern sie damit ihre Liebe, sie erzählen sich gegenseitig diese Anekdoten, wie andere Paare sich mantrahaft immer wieder die Geschichte ihres Kennenlernens erzählen.
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