Weltwissen auf Konservendosen

Tessin Hans-Ulrich Schlumpf rettet den genialen Schweizer ­Künstler Armand Schulthess vor dem Vergessenwerden

Manchmal bleibt von einem Leben nur eine trügerische Erinnerung. Manchmal blieben ein paar Mythen mehr. Bei Künstlern überlebt auch das eine und andere Werk – wenn die Erben einen Sinn für Kunst haben. Die Erben von Armand Schulthess hatten ihn nicht. Sie verbrannten an einem Tag, was der Schweizer Einsiedler in 20 Jahren harter Arbeit geschaffen hatte. So verschwand 1973 ein ganzes Künstlerreich, ein Zauberwald im Tessin voller Schrifttäfelchen, Schrifttafelgirlanden, Text-Installationen. Das Werk eines Eigenbrödlers, der seinen Wald samt Haus zu einem Gesamtkunstwerk gemacht hatte.

Es wäre für immer verschwunden, wenn der etablierte Kunstbetrieb nicht schon damals so langweilig gewesen wäre. Auf der Suche nach dem unbekannten, ungewöhnlichen Kunstwerk kamen Einige auch in den Schweizer Wald. Zu ihnen gehörte der Fotograf und Filmregisseur Hans-Ulrich Schlumpf, der Schulthess‘ Wald schon zu dessen Lebzeiten systematisch durchstreift und fotografiert hatte. Da er einen Film über den Einsiedler drehen wollte, hatte er das Glück, gemeinsam mit einem Kameramann als einzige Außenstehende der Vernichtung des Lebenswerkes beizuwohnen.

Jetzt hat Schlumpf die Erinnerungen an den Einsiedler aufgeschrieben und zusammen mit seinen Fotos in dem Buch Armand Schulthess: Rekonstruktion eines Universums in der Edition Frey herausgegeben. Es ist ein wunderbares Buch geworden, das einen ganz besonderen Künstler endgültig vor dem Vergessen rettet. Es ist ja nicht so, dass Schulthess ein Unbekannter war. Immer wieder wurden Fotos seines Waldes ausgestellt. Das erste Mal noch zu Lebzeiten von der Künstlerin Ingeborg Lüscher, einer Tessiner Nachbarin, die mit ihrer Foto­dokumentation zur documenta 5 eingeladen wurde. Später in den legendären Ausstellungen Junggesellenmaschinen, Monte Verita und Der Hang zum Gesamtkunstwerk des Schweizer Ausstellungsmachers Harald Szeemann.

Auch Max Frisch kannte Schulthess und seinen Wald, er formte die Hauptfigur der Erzählung Der Mensch erscheint im Holozän nach ihm, den Herrn Geiser. Zuletzt richtete der in Berlin lebende Künstler John Bock dem seelenverwandten Künstler-Ahnen 2010 eine kleine Ausstellung in seinem großen Fischgrätenmelkstand in der Temporären Kunsthalle in Berlin ein. Solche Ausstellungen sind wichtig für Künstler, im besten Fall werden sie selbst zu Mythen. Doch wie Theaterstücke sind sie schnell vergessen. Das Buch von Hans-Ulrich Schlumpf wird bleiben und von diesem aufregend-besonderen Künstler berichten.

Denn Hans-Ulrich Schlumpf schwelgt nicht nur in Erinnerungen an den Zauberwald, er rekonstruiert in seinem Buch auch das Leben des Armand Schulthess, der eigentlich André Fernand Schulthess hieß und 1901 im schweizerischen Neuenburg geboren wurde. Es gibt nicht viel, was über ihn bekannt ist: Zwei geschiedene Ehen, ein nach nur acht Monaten gestorbenes Kind, eine gescheiterte Selbstständigkeit, die nicht allzu befriedigende Arbeit als Bürogehilfe in der Bundesverwaltung. Das Leben des Armand Schulthess könnte bis 1951, also bis zu seinem 50. Geburtstag, durchaus normal genannt werden. Zumindest wenn man es so kursorisch und von außen betrachtet.

Dann lässt er sich für immer im Tessin nieder, kauft 18.000 Quadratmeter Wald und beginnt, seine eigene Welt zu bauen. Zwischen Kastanien und Felsen hängte er gelb grundiertes Konservendosenmetall, das mit einer Sticknadel und schwarzer Ölfarbe beschrieben wurde. Frisch geschrieben, schon verrostet, verwittert, verfallen, erneuert, lasen die Besucher des Waldes Hinweise und Lebensanweisungen, Literaturempfehlungen und ganze Traktate aus der Welt eines Welterklärers, Weltenordners. Neben der Astrologie und der aromatischen Chemie, der Theologie, Psychologie und der Kochkunst interessierte sich Schult­hess vor allem für alle Erscheinungsformen der Sexualität. Etwa 70 eigene Bücher mit Textsammlungen und vielen, vielen Bildern hat er zusammengestellt. Wenige wurden vor dem Feuer gerettet, denn für die Erben war, was sie im Chaos des Hauses zwischen Spinnwebengirlanden fanden, „abartig“. Dabei waren es doch nur Bilder aus handelsüblichen Zeitschriften. Hans-Ulrich Schlumpf erinnert sich an die brutale Haushaltsauflösung so: „Da die Räumung unbarmherzig voran schritt und ihre eigene Dynamik entfaltete – man wollte um 17 Uhr fertig sein – begann ich, möglichst viele Bücher aus einem frei geräumten Fenster zu werfen. (...) Am nächsten Tag sammelte ich frühmorgens die so geretteten Bücher und die Ledermappe wieder ein.“

Auf den ersten Blick scheint das Interesse an der Sexualität Teil des speziellen Schult­hess-Problems gewesen zu sein. Dank der wunderbaren, klugen, umfassenden Publikation von Hans-Ulrich Schlumpf ist nun aber völlig klar: Armand Schulthess war ein Mann seiner Zeit, vertraut mit den Ideen seiner Zeit. Doch er diskutierte sie nicht im warmen Zimmer – er lebte sie. In der Natur und mit der Natur, wenn auch ohne Menschen. Er versuchte, selbst Strom zu erzeugen und Wasser zu gewinnen, unabhängig zu werden und im Einklang mit der Natur zu leben.

Das war damals radikal modern, das ist noch heute mehr, als die vermeintlich Modernen je umsetzen werden.

Armand Schulthess: Rekonstruktion eines UniversumsHans-Ulrich Schlumpf, Edition Patrick Frey Nr. 93, 436 S., 127

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