Der deutsche Kaiser als Zeitungsleser

Kriegs-Bilder Die Szenarien wirken fremdartig. Erst die Bedeutung der Medien vor 1914 entschlüsselt die Geschichte des Ersten Weltkriegs

Die Monate Juli und August liegen hinter uns und damit auch die mediale Beschäftigung mit dem Ersten Weltkrieg, der vor 90 Jahren begonnen hat. Das gibt Gelegenheit, eine kleine Nachlese zu halten. Sie soll einige liegengebliebene Früchte aufsammeln, vor allem aber einem Wurm nachgehen, der im Ernteobst steckt. Das Panorama der Ursachen und des Verlaufs dieses großen Kriegs, wie es in den vergangenen Wochen entfaltet worden ist, war durchaus breit, differenziert und informativ. Verdächtig ist allerdings die Leichtigkeit, mit der wir Heutigen uns dieses Kriegs, rückblickend urteilend, entledigen. Dass und wie dieser große Krieg, der wesentlich dazu beigetragen hat, das 20. Jahrhundert so mörderisch zu machen, wie wir es kennen, stattfinden konnte, scheint vorzugsweise mit Menschen und Dingen zusammenzuhängen, die uns so fremd wie möglich sind. Da gibt es diese Leute, die unentwegt mit Pickelhauben herumlaufen und nach Weltherrschaft verlangen. Da schließen Großmächte Allianzen, die so unentrinnbar kollidieren wie Fahrzeuge auf Gegenkurs. Und der Geisterfahrer, der die Megakollision maßgeblich verursacht, nämlich der deutsche Kaiser Wilhelm II., verfügt über die ungeheuerliche Macht, die ganze Welt und die Bevölkerung seines Landes in einen Krieg zu reißen, den er partout will.

Wenn dieses fremd-artige Szenario der Hintergründe des Ersten Weltkriegs plausibel wirkt, so nicht zuletzt deswegen, weil wir Heutigen die Nachlebenden auch des Zweiten Weltkriegs sind - und für dessen Hintergründe kann eine etwas weniger karikaturhafte, aber etwa entsprechende Beschreibung mehr Sinn machen, wenn man die Pickelhauben weglässt und Wilhelm II. durch Adolf Hitler ersetzt. Nur: Der Zweite Weltkrieg ist zwar ganz wesentlich die Folge des ersten, aber weder er selbst noch seine Vorgeschichte sind eine Neuauflage der Geschehnisse vor und nach 1914. Diese bleiben völlig unverständlich, wenn man die damaligen Zeitgenossen inklusive des bizarren Kaisers wie die Lemminge auf die Steilküste auf einen Krieg zusteuern lässt, von dem man im Nachhinein weiß, was er bedeutet hat. Es ist trivial, aber entscheidend, dass die historische Erinnerung die Zukunft derjenigen kennt, an die sie erinnert und über die sie urteilt. Das verführt zur vorschnellen Linienführung und zur billig erlangten Deutungshoheit späterer Generationen über ihre Vorgänger. "Ihr seid nicht klüger, ihr kommt nur später", hat schon Friedrich Nietzsche zu Recht Besserwisser dieses Typs verhöhnt.

Die Menschen vor 1914 reagierten nicht auf ihre Zukunft, sondern auf ihre Gegenwart. Und diese war so offen und unübersichtlich, so ambivalent und kakophon wie Gegenwarten notorisch zu sein pflegen. Für keinen Bereich galt dies so sehr wie für den der internationalen Politik. War Deutschland ein militaristischer Machtstaat, der dampfwalzengleich die Balance der Mächte zu seinen Gunsten umzukehren drohte? Oder war es ein durch die "Einkreisung" der europäischen Großmächte gefährdetes, in seiner Existenz bedrohtes Staatsgebilde? War England mit seinem Empire ein Garant des Friedens? Oder war es die unilaterale Supermacht, deren unangefochtene Superiorität ein drohendes aggressives Potential darstellte? Waren Kolonien unabdingbar, um einen Rang unter den Großmächten einzunehmen? Oder stellte ihr Erwerb einen friedensbedrohenden Akt dar? (Von dem Recht der Kolonien, nicht kolonisiert zu werden, war damals noch nicht die Rede.) Viele Fragen, noch mehr Antworten: Denn nicht nur unter den Nationen, sondern auch innerhalb der Regierungen waren die Meinungen vielfach geteilt - und vor allem gab es in allen Industriestaaten die polyphonen Stimmen der veröffentlichten Meinung über die allgemeine Weltlage und das, was aus ihr zu folgern sei.

Die Jahrzehnte um 1900 waren das erste Medienzeitalter: Noch nie zuvor hatte es so viele Zeitungen und Illustrierte gegeben, noch nie zuvor waren so viele Nachrichten so schnell von einem Weltende zum anderen transportiert worden, noch nie gab es so viele Zeitungsleser. Mit dem Verkauf von Nachrichten und Unterhaltung war jetzt echtes Geld zu verdienen, die entstehenden Konzerne - "Meinungsplantagen", wie der deutsche Publizist Maximilian Harden sie nannte - konkurrierten mit immer reißerischeren Mitteln um die Steigerung der Auflagen. Die imperialistische Konkurrenz der Großmächte lieferte Neuigkeiten mit Nachrichtenwert am laufenden Band - hier ein Massaker, dort ein exotisches Ambiente, da eine beleidigende Äußerung eines ausländischen Politikers.

Die mediale Verbreitung dieser Ereignisse lieferte die starken Bilder, Helden und Geschichten, aus denen die öffentliche Zustimmung, ja Begeisterung für aggressive Großmachtpolitik und imperialistische Eroberungen sich weitgehend speiste. Kurzum: die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs ist ohne Medialisierung schlicht nicht zu verstehen, obwohl die Bedeutung der Medien für diese Entwicklung immer noch zu wenig Berücksichtigung findet (einer der wenigen Historiker, die die zentrale Rolle der Medien vor 1914 in die so genannte allgemeine Geschichte hineingeschrieben haben, war der jüngst verstorbene Wolfgang J. Mommsen). Stellt man sich einmal die Damaligen bis hin zum deutschen Kaiser, zum französischen Außenminister oder zum englischen Botschafter in Berlin als Zeitungsleser vor, die auf Meldungen, Karikaturen und abgedruckte Reden reagierten, dann wirkt diese Zeit schon sehr viel weniger exotisch.

Noch wichtiger ist allerdings ein anderes Verständnisproblem, das aus dieser Ausblendung der Medien entsteht: Die Vorstellungen davon, wie genau denn nun die Teilhabe der Medien an politischen und kriegerischen Eskalationsprozessen funktioniert hat, bleiben zu grob. Die Zeit vor 1914 böte ein reichhaltiges Anschauungsmaterial, um diesem Defizit abzuhelfen. An ihr könnte man beispielsweise sehen, dass schon damals die nachhaltigsten eskalierenden Wirkungen nicht von den flagranten publizistischen Kriegshetzern - die es überall gab -, sondern ausgerechnet von den warnenden, kritischen Stimmen ausgehen konnten: Warnte etwa ein liberales englisches Blatt vor den englischen Chauvinisten, so wurde dies, nur Stunden später jenseits des Kanals in einer deutschen Zeitung abgedruckt, zu einem Argument für die deutschen Nationalisten. In diesen Jahren drückten, wie der liberale Londoner Publizist John A. Spender nach dem Krieg rückblickend feststellte, die Militaristen aller Seiten die Pazifisten des anderen Landes an ihren Busen und belegten ihre Behauptungen aggressiver Tendenzen des jeweils Anderen mit eben dem Protest gegen diese Tendenzen.

Ähnliches vollzieht sich heute wieder, man denke etwa an die weltweite begeisterte Resonanz auf Michael Moore, in die keineswegs nur in der Wolle gefärbte Pazifisten einstimmen. Oder an die Wirkungen, die in islamischen Gesellschaften von den global zirkulierenden Folterbildern aus irakischen Gefängnissen ausgehen können. Nicht die Senderabsicht entscheidet über die Deutung medialer Botschaften, sondern die Kontexte, in welche diese gestellt werden. Das heißt aber nichts anderes als dass es eine international vermittelte Medienkommunikation als solche ist, die antagonistische oder gar kriegstreibende Wirkung haben kann. Die Zeitgenossen um 1900 haben dies als Erste, aber nicht als Letzte erlebt.

Ein wenig Beschäftigung mit der Vergangenheit könnte auch in einer weiteren Hinsicht der aktuellen Medienkritik von Nutzen sein. Seit dem Golfkrieg von 1991 lautet einer ihrer häufigsten Kritikpunkte an der Kriegsberichterstattung, diese beschönige, indem sie die drastischen, blutigen, grausamen Aspekte des Kriegs unterschlage. Das ist sicher richtig - verhängnisvoll an dieser Kritik ist allerdings der mitschwingende Umkehrschluss: dass nämlich von Texten, Fotos oder Filmen, die tote, zerfetzte oder verstümmelte Leiber beschreiben oder zeigen, per se eine kriegskritische Botschaft ausgehe. Was ist, wenn exakt das Umgekehrte der Fall ist: Dass nämlich drastische, "ungeschminkte" Kriegsdarstellungen nur allzu gut in eine (für uns) neue Wahrnehmung von Kriegen passen könnte, die genau aus diesen drastischen Signalen, aus diesem unverstellten Blick auf die existenzielle Bedeutung des Kriegs und seiner Folgen für den einzelnen Menschen, ihren Kick bezieht? Ein solches Szenario braucht man nicht zu erfinden, das hat es alles schon gegeben: vor 1914, als Kriege zum normalen Gang der Dinge gerechnet wurden, die, gerade weil sie all diese grausamen, blutigen Folgen hatten, ebenso zur Erhaltung der Nation wie zur Unterhaltung des Publikums dienten. Nicht obwohl, sondern weil der Krieg als selbstverständlich oder auch als sinnvoll betrachtet wurde, konnte die damalige Kriegsberichterstattung seine Brutalität, seine grausamen Konsequenzen für den Einzelnen beschreiben. Hier nur ein Beispiel aus der Darstellung des preußischen Kriegsberichterstatters Hans Wachenhusen über den Krieg zwischen Preußen und Österreich 1866, die unmittelbar nach Kriegsende erschienen ist:

"Selbst die leichten Verwundungen machen auf uns einen fatalen Eindruck. Wie oft bin ich verwundeten und noch kampffähigen Officiren behülflich gewesen, sie mit dem Taschentuch zu verbinden; jedesmal aber hat mich dies unangenehm berührt, nicht weil ich zu weichherzig wäre: das Kleben des Blutes, das Eitern, das Wundfieber erzeugt ein gewisses Gefühl, das ich mit Ekel bezeichnen möchte, obgleich es nicht ganz zutreffend ist. So auch das Einschlagen der Musketenkugeln. Geschähe es mit einem gewissen Geräusch, es würde weniger unheimlich sein! aber dieses entsetzliche, heimliche Antupfen, das lautlose oder mit einem Seufzer begleitete Niedersinken des Unglücklichen, während da und dort ein Kamerad schon an seiner Seite oder über ihn hinstürzt, das Vorschreiten der Anderen über die Verwundeten, die Unordnung, welche die Gefallenen oft momentan in einem ganzen Zuge anrichten, es hat das Alles etwas Unheimliches, das ich vergeblich zu beschreiben suchen möchte. Jeder Soldat, der im Gefecht gewesen, wird fühlen, was ich nicht ausdrücken kann."

Auch Fotografien drastischerer Art waren in der Regel während der Kriege aus Gründen der (Selbst-)Zensur zwar tabu, mit einer kriegsbejahenden Einstellung jedoch durchaus vereinbar - wie der 1927 erstmals erschienene Fotoband So war der Krieg belegt. Sein Herausgeber Franz Schauwecker begründet im Vorwort, warum in diesem den Weltkrieg verherrlichenden Buch auch die härteren Seiten des Kriegs zum Ausdruck kommen:

"Wer im Kriege nur ›die blöde Abschlachtung‹ sieht, der beweist damit, daß er selber im Kriege nichts anderes sah. Wer dadurch zum Pazifisten wird, der beweist dadurch, daß ihm das nackte Leben über alles geht. Ich gestehe, daß ich einen solchen Menschen für belanglos halte ... Ein Mann, der es nach dem Kriege fertig bringt, die zerstörten Häuser zusammenzuzählen ..., das Blut der Gefallenen nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung in Litern abzuschätzen und dann die Beseitigung des Krieges zu fordern - ein solcher Mann wird fraglos den Wert einer Statue nach ihrem Gewicht, die Gültigkeit eines Bildes nach seiner Größe ... messen."

Sollte also die mediale Kriegsdarstellung tatsächlich drastischer, "ungeschminkter" werden, ist dies womöglich weniger ein Zeichen ihrer zunehmenden Kritikfähigkeit als ein Hinweis darauf, dass unsere Kriegswahrnehmung derjenigen vor 1914 ähnlicher wird.

Ute Daniel ist Professorin für Neuere Geschichte an der TU Braunschweig und arbeitet derzeit an einem Forschungsprojekt über die Geschichte der Kriegsberichterstattung.


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