"Keiner hat das Recht, Menschen zu regieren. Keine Macht für niemand!"
Ton Steine Scherben
"Der Staat, wie wir ihn wollen, ist nicht Gegenspieler, sondern Ausdruck einer offenen Gesellschaft."
Grünes Grundsatzprogramm
Tschüss, ich muss leider zu einem Termin." Ein letztes strahlendes Abschiedslächeln in die Runde der Parteifrauen, die gerade den "Frauenteil" des neuen Grundsatzprogramms der Bündnisgrünen aufs Gründlichste zerfetzt haben. Dann eilt sie davon, das Lächeln zerfließt, dahinter zeigt sich nackter Stress. "Nie hat man Zeit, das wird immer schlimmer!" Umziehen hinter der Bühne, eine neue Rolle ist angesagt: Gleich wird im Bundeskanzleramt ein Empfang für den syrischen Präsidenten gegeben. Und Bashar Assad nicht die Meinung zu sagen über seine antisemitischen Sprüche von neulich, das würde sich Claudia Roth, Parteichefin seit 20 Wochen, Menschenrechtsaktivistin seit über zwölf Jahren, "verdammt übel nehmen". Der schwarze Pulli mit der roten Solidaritätsschleife von der Berliner Aids-Gala verschwindet in der Tasche, hervor kommen ein repräsentabler silberfarbener Hosenanzug und hochhackige Pumps.
Hetze, Hektik, Zeitnot, seit sie Anfang März auf dem Stuttgarter Parteitag zur Chefin aller Grünen gekürt wurde - mit dem Traumergebnis von 91,5 Prozent. 80-Stunden-Woche. Ständige Medienpräsenz. Zu jedem Thema was sagen müssen, immer noch mehr tun, immer noch besser sein. "Das ist das Härteste, was ich je erlebt habe. Aber ich wollte es ja nicht anders." Sie mache ihre Sache sehr gut, sagen andere. Wiewohl Parteilinke, wirke Roth integrierend und verbinde Intelligenz mit Moral und menschlicher Wärme.
Die 46-Jährige teilt sich den Job mit Fritz Kuhn, der wie sie aus dem Süddeutschen und aus dem Theaterfach kommt. Die kleine Claudia wuchs im schwäbisch-bayerischen Babenhausen auf, wo die CSU bis heute kaum weniger Prozente bekommt als früher die SED in der DDR. Aber Claudias Eltern, er Zahnarzt, sie Lehrerin, waren anders: linksliberal. In der Familie lernte sie Herzlichkeit und Konfliktfreudigkeit. Mama, Oma, Schwestern und Neffen - noch heute ist die Bindung zu Familie Nummer eins geradezu innig.
Anfang der siebziger Jahre legte Claudia im Gymnasium Krumbach ein glänzendes Abitur hin, engagierte sich bei den Jungdemokraten, begann in München Theaterwissenschaften zu studieren und lernte beim Landestheater Memmingen Fritz Kuhn kennen. Schon damals standen sie beide auf der Bühne: als Regieassistenten, die auch mal nebenbei schauspielerten. Danach trennten sich ihre Wege: Er studierte weiter, sie ging als Dramaturgin zum Kinder- und Jugendtheater Dortmund, wo sie eines Tages Familie Nummer zwei kennen lernte: "Ton Steine Scherben" mit ihrem legendären Sänger Rio Reiser.
"Wir brauchen keine Fabrikbesitzer, denn die Fabriken gehören uns."
Ton Steine Scherben
"Deutschland soll auch in Zukunft ein attraktiver Wirtschaftsstandort sein."
Grünes Grundsatzprogramm
Die "Scherben", als Anarchisten echte Verächter von Geld und Ordnung, brauchten dringend eine Managerin, die ihre spärlichen Einnahmen kontrollierte und ihre Auftritte regelte. Claudia Roth wurde ein Teil der Rockband, sie lebte und arbeitete im friesischen Fresenhagen, wo die Landkommune unter einem Reetdach wohnte. Claudia versorgte alle mit Liebe und schwäbischen Spätzle. "Schneewittchen" nannten sie die dankbaren Jungs.
"Handeln, sich einmischen, das habe ich tief eingesaugt bei den Scherben", sagt sie heute. Als die Band Mitte der achtziger Jahre auseinander fiel, bewarb sich Claudia Roth als Pressesprecherin der Grünen und fand dort Familie Nummer drei. Von 1989 bis 1998 profilierte sie sich im Europaparlament als Kämpferin für die Rechte der Homosexuellen, als Asyl-, Migranten- und Menschenrechtspolitikerin. 1998 wurde sie in den Bundestag gewählt und saß dort dem Menschenrechtsausschuss vor, "ein Traumjob", bis sie nach ihrer Wahl zur Parteisprecherin das Mandat niederlegte. Zu jeder neuen Arbeit schleppte sie das Songbook der "Scherben" mit, und auch in ihrer Stuttgarter Bewerbungsrede zitierte sie daraus: "Ich will ich sein, anders will ich nicht sein."
"Ich will ich sein" - für eine, die aus dem Theater kommt, ist das keineswegs selbstverständlich. "Politiker spielen auch eine Rolle", vertraute sie der Bunten an. "Und wie Schauspieler brauchen auch Politiker einen guten Text, müssen auf Äußeres und Kostüme achten." Dennoch hat man bei ihr nicht das Gefühl, dass sie sich verstellt. Das hat sie nicht nötig. Sie ist offen, einnehmend und fröhlich, sie küsst jeden mit Vergnügen ab, den sie für einen Teil der "großen Familie" hält. Die große Familie - das sind alle Menschen, die es immer noch nicht aufgegeben haben, die Welt verbessern zu wollen.
Und dennoch neigt auch sie manchmal zu Showeffekten. Dass sie im März auf der "Stunkparade" in Gorleben von einem Trecker herab in die Fernsehkameras lächelte, nachdem ihr Parteikollege Jürgen Trittin dem Castortransport zugestimmt hatte, nahmen ihr die wendländischen Bauern äußerst übel. "Verräter!" schallte ihr entgegen. Noch beim Parteitag in Münster hatte die Parteilinke selbst gegen den "Atomkonsens" gestimmt, jetzt verteidigte sie den Atomausstieg, der keiner ist, als Erfolg der Grünen. Die Wähler sahen das wohl anders, sie bereiteten der Partei bei den letzten Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz die 17. Wahlniederlage in Folge.
"Reisen kaufen. Autos kaufen. Häuser kaufen. Möbel kaufen. Wofür?"
Ton Steine Scherben
"Mit dem Produktions- und produktintegrierten Umweltschutz eröffnen wir der Wirtschaft neue Möglichkeiten."
Grünes Grundsatzprogramm
Der Standort der gelb-grün gestrichenen Parteizentrale in Berlin-Mitte liegt geradezu symbolisch: zwischen einem Krankenhaus und einem Museum. Werden die Bündnisgrünen die nächsten Bundestagswahlen lädiert überstehen oder wandern sie, wie die FDP bei Veröffentlichung des neuen grünen Grundsatzprogramms bereits höhnte, ab ins Museum der Geschichte?
Claudia Roth, die ihr Büro im dritten Stock mit farbenfrohen Gemälden und grünen Herzchen ausstaffiert hat, absolviert auch heute einen Termin nach dem anderen. Am Vormittag Pressekonferenz zur Vorstellung des Grundsatzprogramms, am Nachmittag Interview zum selben Thema beim Nachrichtensender n-tv, am Abend Lifeschaltung zu Ulrich Wickerts Tagesthemen. Dabei wird deutlich, wie geschickt die beiden Parteisprecher ihre Integrationskraft nach rechts und links aufgeteilt haben. Während Fritz Kuhn den bieder-braven 77-Seiten-Entwurf als Programm einer "Reformpartei der linken Mitte" anpreist, versichert Claudia Roth, das sei "kein Versuch, linke Geschichte zu entsorgen", sie seien "keine Partei, die sich jetzt in die Mitte knubbelt - da ist es eh schon sehr voll."
Ihr Mitarbeiter räumt unauffällig die Theaterutensilien beiseite: Bürste und Haargel. In den Regalen stehen Bildbände über Schuhe und Schmuck, Bücher in allen Sprachen, Berichte von Amnesty International und Viviane Forresters "Terror der Ökonomie", und gleich griffbereit neben dem Schreibtisch: das "Scherben"-Songbook. Diese Musik, sagt sie und reißt ihre großen braunen Augen auf, die eine ganze Versammlung in Bann ziehen können, die sei immer noch ihr "Wiederaufladeakku". "Macht kaputt, was euch kaputtmacht?" Naja, lacht sie, "das haben wir bald nicht mehr gespielt." "Keine Macht für niemand?" Als Hymne einer Regierungspartei? Hm. Sie lässt die Beine über die Sessellehne baumeln. "Damit kann ich auch nicht mehr viel anfangen. Aber mir gefällt immer noch: Ich bin nicht über dir, ich bin nicht unter dir, ich bin neben dir."
Nein, die früheren Band-Mitglieder sehen es nicht als "Verrat", was sie heute treibt. Im Gegenteil: Sie haben "ihre Claudia" zur Kandidatur als Parteichefin ermutigt und ihr nach der Wahl mit einem Ständchen gratuliert. Dafür aber haben sie das Recht, ihr die "gelbe Karte" zu zeigen, sobald sie das Gefühl haben, dass ihre Freundin abhebt. Wie oft gab´s schon gelb? Claudia Roth antwortet ehrlich: "zweimal".
Dabei ist das Leben unter ständiger öffentlicher Beobachtung sicher nicht einfach. "Heulsuse" und "Gefühlstussi" wird sie tituliert, seit sie sich ihrer Tränen nicht schämte, als die deutschstämmigen Brüder Walter und Karl LaGrand trotz all ihrer Interventionsversuche in den USA hingerichtet wurden. Der Stern beschrieb sie als "dampfende Gefühlsmaschine", der Spiegel als "Übermutter", die Berliner Zeitung unterstellte ihr "moralischen Rigorismus". Allesamt Attribute, die wohl eher auf die Gefühlsgestörtheit vieler Journalisten hinweisen, aber eben doch hängenbleiben. "Manches ist schon beleidigend", gibt sie zu. "Auch für sowas brauch ich meine Freunde."
Draußen vor ihrem Fenster turnt gerade ihr Kollege Fritz Kuhn an der Fassade herum. Wenn in Bonn der Klimagipfel tagt, will er auf einem eigens angebrachten Gerüst die Parteizentrale hochklettern. Die Aktion mutet ein wenig lächerlich an: Warum der eigenen Partei aufs Dach steigen? Warum nicht der Botschaft der USA, dem Hauptverursacher der Klimakastastrophe? Geht es auch hier nur noch um Medienbilder? "Kein Ende der Vorstellung in Sicht", sagt drinnen Claudia Roth gerade.
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