Ein zweites Afghanistan

Interview Der jemenitische Exilpolitiker Fami al-Qadi spricht über die Unbesiegbarkeit von al-Qaida und die Möglichkeit eines Krieges auf der Arabischen Halbinsel

Der Freitag: In Deutschland wird die Lage Ihres Landes augenblicklich überwiegend so dargestellt: Undurchschaubare Stammes­konflikte, bürgerkriegsähnliche Zustände und Unregierbarkeit machen den Jemen zum Stützpunkt von al-Qaida, die dort ihre wichtigsten Basen hat. Trifft das zu?


Fami al-Qadi: Zunächst einmal – al-Qaida ist keine politische Partei, sondern ein Sammelbecken. Es gibt im Jemen Abertausende von Al-Qaida-Leuten, es gibt Al-Qaida-Führer mit großen Autos und mit einer Leibgarde. Sie fahren in der Hauptstadt Sanaa herum und haben eine unerschöpfliche Reserve.


Was meinen Sie mit dieser ­Reserve?


Der Jemen ist nur an zwei Dingen reich, an jungen Männern ohne Bildung und an Waffen – das eine kommt zum anderen. Al-Qaida ist so etwas wie Hartz IV im Jemen und gibt den Analphabeten Geld zum Beten. Präsident Saleh hat keine andere Lösung für die Armen und die Arbeitslosen zu bieten. Al-Qaida bietet eine Perspektive, den Terrorismus.


Richtet sich al-Qaida gegen die Regierung in Sanaa?


Al-Qaida hat 1994 gegen die Kommunisten im Südjemen gekämpft und Präsident Saleh seinerzeit mit der Organisation zusammenge­arbeitet. Dies geschah mit Wissen und nach dem Willen der damaligen US-Regierung. Jetzt kämpft Saleh gemeinsam mit den Amerikanern angeblich gegen al-Qaida.


Warum angeblich?


Sie müssen sich das so vorstellen: Al-Qaida sagt zu Saleh, du kannst ruhig gegen uns kämpfen, aber du musst uns auch unterstützen. So läuft das Geschäft. Saleh lässt dann ein paar Al-Qaida-Leute festnehmen und ein paar Tage später im Dunkeln wieder frei, denn die Spitzen von Al Qaida sind im Jemen unantastbar. Die Nr. 2 von al-Qaida, Tariq al-Fadlli, lebt schließlich in diesem Land – jeder sieht ihn, jeder kennt ihn. Führende Al-Qaida-Mitglieder waren in Afghanistan, dann wieder im Jemen, dann wieder in Afghanistan. Osama bin Laden ist im Nachbarland geboren, er hat im Jemen seine Homebase, seine Netzwerke, alles. Seine Familienkonflikte werden gleichfalls im Jemen ausgetragen, während die Familie Bin Ladens ein Firmenimperium in Saudi-Arabien unterhält.


Wissen das die Amerikaner nicht? Gerade hat der jemenitische Staatschef 70 Millionen Dollar für den Kampf gegen al-Qaida bekommen.


Saudi-Arabien hat gegen die Huthi-Rebellen verloren, der jemenitische Staat bisher auch – jetzt führt Saleh den Kampf weiter, mit dem Geld der Amerikaner. Aber die Huthi-Rebellen haben viel Zeit, und sie haben die Berge. Und wie bereits gesagt, al-Qaida sitzt in Sanaa, der Hauptstadt des Jemen. Wie sollen die Amerikaner auf diesem Terrain zurechtkommen?


Das erinnert an Pakistan, wo die „Freunde des Westens“ zugleich Deals mit den Taliban machen. Kooperiert al-Qaida mit den ­Huthi-Rebellen?


Nein, aber sie bekämpfen sich auch nicht. Wenn beide eine Allianz bilden würden, hätten sie Sanaa längst eingenommen. Saudi-Arabien weiß das, Jemens Präsident ebenso .


Saudi-Arabien ist Alliierter der USA. Warum zerschlagen sie al-Qaida nicht?


Weil die Saudis al-Qaida stattdessen finanzieren. Sie tun das, weil sie einen armen Jemen und den Druck von al-Qaida auf dessen Regierung brauchen, damit der Jemen unter ihrer Kontrolle bleibt.


Wissen das die Amerikaner nicht? Immerhin steckt al-Qaida hinter den Anschlägen vom 11. September 2001 und diversen anderen Terroraktionen.


Natürlich wissen die Amerikaner das, aber sie brauchen das Öl der Saudis, sie wollen an das Rote Meer, und sie wollen den Golf von Aden kontrollieren. Und sie können den Saudis nicht einfach sagen: Seid endlich loyal im Kampf gegen al-Qaida. Denn al-Qaida ist im Jemen und in Saudi-Arabien. Nicht die Amerikaner – Scheichs haben Einfluss auf Scheichs. Al-Qaida ist Fleisch von ihrem Fleisch, Blut von ihrem Blut.


Und was sollten die Amerikaner tun? Sanaa bombardieren? Und dann? Präsident Saleh macht doch nicht nur Deals mit den USA, sondern auch mit al-Qaida. Jemand anders ist derzeit nicht in Sicht. Vielleicht bereiten die Amerikaner schon den nächsten Diktator vor, der ihnen besser zuarbeitet. Bis dahin wissen alle Al-Qaida-Leute, der Jemen ist für sie ein sicheres Terrain, dort genießen sie den Schutz des jemenitischen Geheimdienstes und ihres Stammes. Die CIA weiß das, der deutsche Geheimdienst weiß das, jede arabische Regierung weiß das. Es kommt ein entscheidender Umstand hinzu: Al-Qaida rekrutiert sich aus Sunniten. Vielleicht braucht man die noch.


Wozu?


Gegen die Mullahs, gegen das Regime im Iran, denn das sind Schiiten. Sollten die USA irgendwann Krieg gegen Iran führen, ist es besser, al-Qaida im Jemen in Ruhe zu lassen. Das sind Sunniten, die als Kämpfer im Sudan, in Somalia, in Afghanistan und im Irak waren und die Schiiten hassen. Die ersten, die mit Feuereifer in einen Krieg gegen Iran ziehen würden, wären Al-Qaida-Leute aus dem Jemen.


Hört sich alles verzwickt an. Al-Qaida bedroht auch die korrupten arabischen Regimes von Ägypten bis Bahrain. Wie verhalten die sich?


Jede dieser Regierungen hat Angst vor al-Qaida und versucht, sich mit al-Qaida gut zu stellen, damit die Selbstmordattentäter ­woanders hinschickt werden – jede dieser Regierungen weiß, wo sich Al-Qaida-Spitzen aufhalten. Das läuft ein bisschen so wie mit den Piraten vor Somalia: Wenn ihr uns nicht verpfeift und wir unser ­Diebesgut bei euch verkaufen ­dürfen, überfallen wir eure Schiffe nicht.


Das ist ja wie mit den Ausbildungscamps für Selbstmordattentäter im Nordosten Pakistans. Die dortigen Taliban sagen, ihr könnt uns ruhig bekämpfen, aber sagt vorher Bescheid, damit wir in Deckung gehen können. Dann schicken wir die Attentäter nach Afghanistan. Wenn nicht, schicken wir sie nach Islamabad.


Ja, damit lässt sich das vergleichen. Die Lage im Jemen ist der in Afghanistan oder Pakistan sehr ähnlich.


Was würde geschehen, sollten die Amerikaner im Jemen einmarschieren?


Sie hätten alle gegen sich – außer Salehs Regierung. Die Jemeniten haben genug Kolonialismus kennen gelernt. Es gäbe einen Krieg wie im Irak.


Wie Sie das beschreiben, hört sich das alles recht hoffnungslos an. Heißt das letzten Endes, die US-Regierung kann al-Qaida kaum zerschlagen, weil deren Tentakel überall hin reichen – bis hin zu potenziellen Bündnispartnern?


So ist es. Al-Qaida bekommt Geld von den Saudis, die Amerikaner bekommen Öl von den Saudis. Saleh ist „Beamter“ Saudi-Arabiens und hat sein Land an die Saudis verkauft, dem nichts weiter bleibt als Armut, junge Männer ohne Arbeit und ein Meer von Waffen. Alles zusammen ergibt al-Qaida.


Was sollte man bei dieser Kon­stellation von der deutschen ­Außenpolitik erwarten?


Außenminister Westerwelle hatte jüngst bei seinem Besuch Geld versprochen, damit Präsident Saleh gegen den Terrorismus vorgeht. Hätte sich Westerwelle auf den Straßen umgesehen, wäre ihm aufgefallen, dass es keine Schulen gibt. Dass viele Menschen nur einmal am Tag essen können, dass Kinder Hungerbäuche haben wie in Somalia. Ich frage, warum bekommen Dissidenten aus dem Jemen in Deutschland Asyl und stehen unter Polizeischutz, während ein Militärdiktator, der für ihr Exil verantwortlich ist, vom deutschen Außenminister hofiert wird?


Deutschland sollte unter diesen Umständen keine Soldaten in den Golf von Aden, vor die Küste Somalias oder gar in den Jemen schicken. Die Anrainerstaaten bekommen Milliarden Dollar an Steuern für die Schiffe, die durch ihre Hoheitsgewässer fahren. Mit diesem Geld sollten sie für den Schutz der Schiffe sorgen und mit Sanktionen bestraft werden, wenn sie das unterlassen. So, wie es derzeit läuft, verdienen sie doppelt – an den Steuern und den Piraten.


Was wünschen Sie sich für Ihr Land?


Als erstes eine Entwaffnung. Den jungen Männern müssen die Waffen weggenommen werden. Sie brauchen keine Waffen, sondern eine Ausbildung. Ich befürchte, dem Jemen steht die Hölle bevor. Es wird schlimmer als in Afghanistan: Krieg, Terror, Blut und Tod.




Das Gespräch führte Utz Anhalt

Fami al-Qadi ist Sohn des Oppositionspolitikers Hussein al- Qadi, der 2009 im Alter von 79 Jahren vom jemenitischen Geheimdienst ermordet wurde. Al Qadi lebt als anerkannter politischer Asylant in Deutschland

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