Bauern legen und Hütten schmelzen

Polen Schon vor dem Beitritt beginnt der Zusammenbruch des Arbeitsmarktes

Mehr als 50 Prozent der Krakauer Taxifahrer sind Bauern.« Diesen kleinen Hinweis erhält jeder, der mit Wieslaw Okrajek, dem Chef der Landwirtschaftskammer in der Wojewodschaft Malopolskie und Mitglied der Bauernpartei PSL, über die anstehenden Veränderungen in der polnischen Landwirtschaft reden will. Die Statistik macht es möglich: Wer auch nur einen Hektar landwirtschaftlich genutzter Fläche sein eigen nennt, ist Bauer. »Ich habe in der Landwirtschaftskammer Abstimmungen erlebt, bei denen mir viele stimmberechtigte Bauern nicht einmal sagen konnten, wo sie ihr Land haben.« Oft ist es verpachtet oder liegt brach, gerade in Krisenzeiten ist es jedoch auch begehrte Grundlage einer ergänzenden Subsistenzwirtschaft für Familien, die längst in der Stadt wohnen. Zählt man alles zusammen, kommt man auf derzeit zwei Millionen Landwirtschaftsbetriebe mit einem sagenhaften Beschäftigungsanteil von 25 Prozent an allen Erwerbstätigen - fast zehnmal so hoch wie der Durchschnitt in der Europäischen Union.

Phänomene dieser Art sind in etablierten EU-Ländern schwer zu erklären und haben bei den Beitrittsverhandlungen zum hart umkämpften Kapitel Landwirtschaft immer wieder für Verwirrungen gesorgt. Und die Bauern selbst fragen sich, wie viele Höfe nach dem 1. Mai 2004, dem Beitrittsdatum, überleben werden. Offiziell wird von 800.000 landwirtschaftlichen Betrieben gesprochen, Experten außerhalb der Politik dagegen halten eher 350.000 für realistisch.

Tadeusz Golag aus Luborzy, nur wenige Kilometer vor den Toren Krakaus, ahnt wohl auch, dass er es nicht schaffen wird. Acht Kühe, sieben Schweine und 20 Ferkel unter einem Dach - schon das ist mit EU-Normen nicht vereinbar. Also bis Jahresende die Schweine verkaufen, auch wenn der Kilopreis bei noch nicht einmal drei Zloty liegt? Und dann? Mehr Kühe anschaffen? Immerhin wird die Milch von Les monts de Joux, einer französischen Großkäserei, zu stabilen Preisen abgenommen. Aber die Melktechnik ist veraltet, auch der ganze Stall müsste erneuert werden, allein das würde 50.000 Zloty (12.000 Euro) kosten. Pro Kuh braucht man einen Hektar Land für Futtergetreide, Bauer Golag müsste mehr Land pachten. »Aber woher soll ich das Geld bekommen? Die Banken geben keine zinsgünstigen Kredite und wollen wenigstens meine Kühe als Sicherheit. Früher gab es solche Kredite, man bekam aber fast nie die nötigen Maschinen. Heute kann ich alle Maschinen kaufen, aber die Kasse ist leer.«

Dass konservative Bauern sich mit Wehmut an manches aus der Vorwendezeit erinnern, hätte in Luborzy früher wohl niemand gedacht. Tadeusz Golag jedenfalls sieht für sich keine Zukunft als Landwirt. Der Vater krank und jenseits der 80, die Frau mit einem Job in Krakau, die Kinder noch in der Schule und bislang ohne Ambitionen, den Hof zu übernehmen - Golag wird nicht alles riskieren und am Ende wohl auch als »echter Bauer« lautlos aus der Statistik verschwinden.

Schon die durchschnittliche Fläche eines polnischen Bauernhofs ist mit 7,9 Hektar äußerst gering. In Malopolskie beträgt sie noch nicht einmal vier Hektar. Schicksale wie das von Tadeusz Golag sind rund um Krakau keine Seltenheit und typisch für diejenigen, die nicht rechtzeitig ihre Höfe vergrößert haben. Wer dies nicht konnte oder wollte, wird kaum eine Chance haben. Eine gewisse Betriebsgröße ist auch aus einem anderen Grund unabdingbar. Nach dem Zusammenbruch des staatlichen Handelssystems sind private Zwischenhändlermonopole entstanden, die ihren Tribut verlangen. Vernünftige Preise sind nur zu erzielen, wenn man sich als Einzelkämpfer durchschlägt.

Noch immer leben in Polen fast 40 Prozent der Bevölkerung auf dem Lande. Doch die Auslese, die bereits vor dem EU-Beitritt auf vollen Touren läuft, stellt die Zukunftsfähigkeit von Dörfern und kleinen Städten in Frage: »Wenn Du weiter so schlecht in der Schule bleibst, musst Du den Hof übernehmen.« Skurrile Motivationsrhetorik wie diese hörte Wieslaw Okrajek in den vergangenen Jahren immer häufiger, wenn er Bauern besuchte. Schon jetzt wandern gerade junge und qualifizierte Arbeitskräfte in die Städte ab und sind froh, nicht mehr auf dem Lande leben zu müssen. Wenn zeitversetzt, wie in den Beitrittsverhandlungen festgelegt, die EU-Subventionen polnische Bauernhöfe erreichen, wird der Marktbereinigungsprozess wohl schon vorbei sein. Bis dahin herrscht Kapitalismus pur. Am Ende, so befürchtet Okrajek, werden die Älteren auf dem Lande unter sich sein.

Nach Prognosen der Regierung wird allein das Höfesterben der Vollerwerbsbauern die Zahl der Arbeitslosen um etwas mehr als zwei Millionen erhöhen. Gleichzeitig dürfte es schwieriger werden, in anderen Wirtschaftsbereichen Arbeit zu finden. Zwar galt Polen mit seinen hohen Wachstumsraten lange Zeit als vielversprechendes Musterland der Beitrittskandidaten. Aber Branchen wie Kohle, Stahl und Schiffsbau, die allesamt in der EU von strengen Produktionsquoten betroffen sind, werden sich auch in Polen eher rückläufig entwickeln und ihrerseits Arbeitskräfte »freisetzen«.

Die aktuelle Arbeitslosenquote von landesdurchschnittlich 18,8 Prozent zeigt nachdrücklich, dass aus dem Musterland schon jetzt ein Problemfall geworden ist. Aber es dürfte noch schlimmer werden. Von den 25 Stahlhütten Polens ist bisher nur eine privatisiert worden, 20 Unternehmen werden demnächst wohl ihre Tore schließen. Für die übrigen vier, eine in der Staatsholding Polskie Huty Stali zusammengeschlossene Notgemeinschaft, soll bis Ende April eine Übernahmeofferte vorliegen. Selbst wenn eine Privatisierung gelingen sollte, werden mindestens 30.000 Arbeitskräfte die Branche verlassen. Auch in den Kohlegruben Schlesiens gehen offizielle Schätzungen von mindestens 25.000 »Freisetzungen« aus. Bezieht man andere, schon jetzt bekannte Entlassungen mit ein, wird Polens Arbeitslosenquote in einem Jahr vermutlich bei etwa 25 Prozent liegen.

Erwerbslosigkeit in dieser Dimension, die selbst heutige Durchschnittswerte ostdeutscher Bundesländer weit in den Schatten stellt, ist nicht nur Beleg für einen letztlich verfrühten Beitrittstermin. Sie ist auch ein Ergebnis des viel zu optimistischen Umgangs aller polnischer Regierungen mit diesem Jahrhundertprojekt. Mag das Referendum über den EU-Beitritt in sechs Wochen auch knapp positiv ausgehen - angesichts der um ein Jahr auf den Juni 2004 vorgezogenen Neuwahlen bergen diese Entwicklungen ungeahnten politischen Sprengstoff. Schon jetzt sitzen mit der radikalen Bauernpartei Samoobrona, die in den Kleinstädten das anwachsende Protestpotential aufsammelt, und mit der Liga Polnischer Familien (LPR) zwei europafeindliche Parteien des rechten Rands im Parlament, die von einem kollektiven Stimmungsumschwung profitieren wollen. Wie schnell polnische Regierungen sogar in der außerparlamentarischen Opposition verschwinden können, hat der Ausgang der letzten Wahl gezeigt.

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