Dass Satchmo am 4. Juli, dem Unabhängigkeitstag der USA, und noch dazu im Jahre 1900 geboren wurde, ist natürlich eine Legende. Nach seinem Biographen Gary Giddens war es wahrscheinlich der 4. August 1901. Doch wen schert's? Wie sagt der Journalist in John Fords großem Western, als er erfährt, dass nicht James Stewart, sondern John Wayne der Mann war, der Liberty Valance erschoss: "Wenn die Legende zur Wahrheit geworden ist, druckt die Legende."
Schwestern und Brüder, sperrt eure Ohren und Herzen auf, denn der Reverend hält euch jetzt 'ne Predigt, die 'nen guten Beat hat. Sie handelt von einem unserer Brüder, den ihr alle kennen werdet, und wer unter euch ihn dennoch nicht kennt, der wisse: Wenn dereinst die Heiligen ins Himmelreich marschieren, dann wird er mitten unter ihnen sein und Trompete blasen. - Hallelujah! Hallelujah!
Und es begab sich aber zu der Zeit, kurz bevor Al Capone Herrscher über Chicago wurde, dass ein Telegramm ausging von König Joe Oliver an unseren Bruder im fernen New Orleans: "Komm zu mir, Sohn, setz dich nieder zu meiner Rechten und spiel dein Kornett, so wie ich es dich gelehrt habe." Unser Bruder tat, wie ihm geheißen, und stieg in den Abendzug, der ihn nach Norden in die Windy City brachte. Und sehet: Als er in der Illinois Central Station das Treppchen des Eisenbahnwaggons hinabstieg und seinen ersten Fuß von der letzten Stufe auf den Beton des Bahnsteiges setzte, da war dies für unseren Bruder nur ein winziger Schritt, doch ein großer, ein riesiger für die Musik. Denn wisset: Mit diesem Schritt unseres Bruders ließ der Jazz auf immer die Freudenhäuser und Kaschemmen, die Friedhöfe und Schaufelraddampfer, die Baumwollfelder und Mangrovensümpfe Louisianas hinter sich und zog hinaus in die Welt, die Ohren der Menschen allüberall unter Gottes weitem Himmel zu betören, sie hören zu lehren, ihre Herzen zu erobern und ihre Seelen zum swingen zu bringen. So merkt euch denn also: Diese Ereignisse nahmen ihren Lauf am achten Tage des Augusts im Jahre des Herrn 1922. - Blow it, boy.
Zwei Jahre spielte unser Bruder in der Creole Jazz Band von "Papa Joe", wie er den König Zeit seines Lebens in kindlicher Bewunderung nannte. Jeden Abend platzten die Lincoln Gardens aus allen Nähten; eintausend Menschen fasste das Lokal. Bix Beiderbecke, das versoffene Trompetengenie, war unter ihnen, die Dorsey-Brüder, all die weißen Musiker aus der Unterstadt kamen, um unserem Bruder zuzuhören. Wie machte er das nur? Kaum hatte Joe Oliver ein, zwei Töne aus seinem Horn herausgeschmettert, stieg er mit brillantem, kraftvollem Sound ein in den Break und spielte die zweite Stimme zu der Phrase, die der König aus dem Stegreif improvisierte. Da war nichts abgesprochen, nichts vom Blatt gespielt oder vorher eingeübt; er kannte die Gedanken des Königs, bevor dieser sie zu Musik werden ließ. "Ich ging so in Joes Musik auf, dass ich der Leadstimme seines Horns im Bruchteil einer Sekunde folgen konnte", hat unser Bruder später geschrieben. "Niemand konnte begreifen, wie wir das schafften, aber für uns war es einfach. Als Papa Joe anfing, in sein Instrument hineinzublasen, war es so, als ob die alten Zeiten zurückgekommen wären."
Die alten Zeiten; damals way down yonder: Hätte er am Silvesterabend des Jahres 1913 nicht aus lauter Übermut aus einem Revolver einen Schuss in den Nachthimmel abgefeuert, wer weiß, vielleicht wäre aus dem verwahrlosten Straßenjungen nicht mehr geworden als der Lude einer billigen Hure in Storyville, dem Rotlichtviertel von New Orleans. Dieser Schuss brachte ihm eineinhalb Jahre Besserungsanstalt ein. Dort drückte ihm einer der Wärter, Peter Davis, ein Kornett in die Hand und gab ihm ersten Musikunterricht. Entlassen, lernte er den Rest von drei unbestechlichen Lehrmeistern, von seinen zwei Ohren und eben jenem King Oliver, der der beste Kornettist von New Orleans war, bis er 1919 nach Chicago ging. New Orleans, das hieß Jazz an jeder Straßenecke, bei jeder Beerdigung, in jedem Friseursalon und Bordell. Unser Bruder sang in den Straßen und ließ den Hut kreisen, spielte Kornett bei Oscar Papa Celestin, dem großen Posaunisten Kid Ory und Fate Marable, und jetzt, hier in den Lincoln Gardens, durfte er endlich neben König "Papa Joe" Oliver Kornett blasen. Dies war alles, nein, dies war mehr, als er sich in seinen kühnsten Träumen ausgemalt hatte. Die Menschen strömten herbei, große Musiker lauschten ihm andächtig, er verdiente gutes Geld, und "Papa Joe" grinste zufrieden. The sunny side of the street: Konnte ein Musiker, ein schwarzer dazu, mehr vom Leben erwarten? Er konnte. - Go, man, go!
Seinem Weibe Lil, der Pianistin der Creole Jazz Band, war dies nicht genug. Sie hörte, dass mehr in ihm steckte. "Der König treibt ein falsches Spiel", flüsterte sie unserem Bruder ein. "Er will dich nur zu seiner Rechten wissen, damit du nie über ihn hinauswachsen mögest. Du hast das Zeug dazu, König aller Könige zu werden. Papa Joe weiß dies, ich weiß dies, alle, die dir zuhören, wissen es, und du, du weißt es auch." So verließ unser Bruder den König, denn Fletcher Henderson hatte ihn zu sich nach New York gerufen, auf dass er ab Herbst 1924 Trompete in seinem Orchester blase. - Swing that music.
Hendersons Leute rümpften die Nasen. Der Neue habe keine Klasse. Er sei zu fett, sein Anzug aus der Mode, seine Schuhe so klobig wie die eines Polizisten, seine Beinkleider hätten so stark Hochwasser, dass seine langen Unterhosen hervorblitzen. Unmöglich! - Wer das Privileg genoss, mit der crème de la crème spielen zu dürfen, habe peinlichst auf seine Garderobe zu achten: englischer Gesellschaftsanzug. Seidenhemd und handgearbeitetes Schuhwerk. Doch dann setzte unser Bruder sein Horn an die Lippen, und nach seinem Solo über Go 'Long Mule hatte New York eine neue Sensation, der Roseland Ballroom jeden Abend volles Haus und Hendersons Modegecken eine erste Vorstellung davon, was sie aus ihren Instrumenten herausholen könnten, wenn sie ihre Musik ernster nehmen würden und sich auf ihre maßgeschneiderten Hosenböden setzten, um sich die Fähigkeit anzueignen, Nummern wie den Sugar Foot Stomp, Copenhagen und den Shanghai Shuffle wirklich swingen zu lassen. Nach einem Jahr kehrte unser Bruder zurück nach Chicago. Sein Werk war getan, der Samen gesät: Henderson konnte sich hören lassen, seine Solisten hatten dazugelernt, die Rhythmus-Gruppe swingte. Das Orchester stieg zum besten des Landes auf und wurde Inspiration und Ansporn für alle Großen der Big-Band-Ära: Ellington, Basie, die Dorseys, Goodman und Shaw. - Take it, Satch.
Schwestern und Brüder, höret nun, wie sich zu Chicago alsbald die Verheißung erfüllte, die jeder Ton unseres Bruders versprach, den er bei King Oliver, Fletcher Henderson, gemeinsam mit Sidney Bechet in Clarence Williams Blue Five und als Begleiter von Bessie Smith, der Kaiserin des Blues, bis dahin geblasen hatte. Denn wisset: Im Laufe der nächsten drei Jahre vom November 1925 bis zum Dezember 1928, nahm er sechzig Musikstücke auf, die noch heute alle Welt in ehrfürchtiges Staunen versetzen.
Niemals vorher hat der Klang einer Trompete majestätischer gestrahlt als in der Kadenz, mit der unser Bruder den West End Blues einleitet. Er spielt in dieser Kadenz alle zwölf Töne der chromatischen Tonleiter, verteilt sie aber mit solchem Geschick, dass der Bezug zur Tonart nie verlorengeht, sich kein Ton schroff an dem anderen reibt, und kaum einer seiner Hörer merkt, dass ihm im Gewand eines schlichten Blues hochmoderner Schönberg untergejubelt wird. Niemals vorher war der Aufbau eines Solos klarer und vollendeter als im Potato Head Blues; nie hatte man eine Trompete mit ausdrucksvollerem Vibrato gehört. Nie hatte eine Band mehr geswingt als in Struttin' With Some Barbecue. Nie hatte es ein so kongeniales Call-and-Response von Trompete und Klavier gegeben, wie in Skip The Gutter, Weather Bird und St. James Infirmary, in denen der Pianist Earl Hines mit seinen perlenden Läufen und pulsierenden Tremoli Artikulation und Vibrato der Trompete unseres Bruders nachahmte und so eine neue Art, Klavier zu spielen, erschuf, die Legionen von Pianisten noch immer beeinflusst.
Unser Bruder hatte für diese Aufnahmen die besten Musiker um sich geschart. Mit seinen Hot Five, Hot Seven und den Savoy Ballroom Five brach er mit den Traditionen des New Orleans Jazz. Das dreistimmige Geflecht von Trompete, Klarinette und Posaune löste er auf. Das Solo stand im Mittelpunkt der Musik. An die Stelle kurzer Breaks von zwei bis vier Takten, traten Improvisationen, die mehr waren als nur Variationen des Themas, sie waren eigenständige Melodien, die auf dem Akkordgerüst des Stückes aufbauten. Die Rhythmus-Gruppe betonte nicht mehr wie in der Marschmusik den ersten und dritten Grundschlag im Viervierteltakt, sondern alle vier Schläge gleichmäßig; sie swingte. - It don't mean a thing, if it ain't got that swing.
Unser Bruder hatte keinen Swing, er war Swing. Er swingte buchstäblich das gesprochene Wort. Im Big Butter And Egg Man kommentiert er den Gesang von My Alix mit so viel Rhythmus, dass seine gesprochenen Worte wie ein auf der Trompete geblasener Break wirken, der eines seiner großartigsten Soli auf diesem Instrument einleitet. - Oh-bebbih-duh-de-dädibb.
In Heebie Jeebies aus dem Jahr 1926 singt unser Bruder zuerst mit seiner unverwechselbaren, heiseren, sandig-rauen Stimme den Text dieses Songs: "I've got the heebies, I mean the jeebies, talk 'bout dance...". Doch dann sei ihm das Textblatt vom Notenständer gefallen, und er habe einfach weitergemacht mit Silben, die ihm gerade in den Sinn gekommen seien: "Rip-bip-üh-duh-dih-duht, duh". Heebie Jeebies erobert die Vereinigten Staaten im Sturm. Dies war die Geburt des Scat-Gesangs, auch wenn es nicht das erste Mal war, dass unser Bruder scattete. Die Stimme wird zum Instrument, er nutzt sie so wie sein Kornett oder seine Trompete. Wenn er singt, zeigt sich noch deutlicher, als wenn er Trompete spielt, worin das Geheimnis seiner Musik begründet liegt: Es ist sein Timing. Er herrscht über die Zeit, nicht die Zeit über ihn. Er spielt mit ihr. Mal läuft er ihr voraus, mal hinkt er ihr hinterher, mal geht er mit ihr mit, gerade so, wie es ihm gefällt. Wer an dieses Wunder nicht glaubt, höre sich seine Aufnahmen mit den Mills Brothers an, dem swingendsten Gesangsquartett der dreißiger Jahre. Elegant und völlig entspannt, swingen sich die vier Brüder durch den ersten Chorus von In The Shade Of The Old Apple Tree. Niemand macht ihnen das nach. Den besten Saxophonsatz der Welt hat der große Lester Young, die Mills Brothers später genannt, weil sie es perfekt beherrschten, mit ihren Stimmen Bläsersätze zu imitieren. Das letzte "Tree" der vier ist noch nicht verklungen, da steigt unser Bruder ein - "Oh-bebbih-duh-de-dädibb" -, und der beste Saxophonsatz der Welt rollt sich dahin, wohin er gehört - unter uns Normalsterbliche.
Wahrlich, ich sage euch, Schwestern und Brüder, alle Musik, die unser Bruder vom August 1922 bis zum Dezember 1928 schuf, ist der Fels, auf dem der Herr seinen Jazz baute, den Jazz und damit jegliche Musik, die auf diesem fußt.
Der Rest seines Lebens war Show, dummes Affentheater für ein weißes Massenpublikum, dem er das gab, was es von einem Schwarzen erwartete: das breiteste Onkel-Tom-Grinsen, Augenrollen, Hello Dolly und What a wonderful World. Die Musik, die er von 1929 an bis zu seinem Tode am 6. Juli 1971 spielte, war nur noch selten der Rede wert.
Dennoch: Kein Musiker auf dieser Welt, egal welches Instrument er spielt, der am heutigen Tag nicht sein Haupt in Ehrfurcht vor unserem Bruder neigen und jene Worte sprechen sollte, die uns vom Trompeter Dizzy Gillespie überliefert sind: "Ich verdanke ihm mein Leben."
Gott schuf Himmel und Erde, den Tag, die Nacht, alle Pflanzen und Tiere, den Menschen, die Trompete und ließ am 4. Juli des eintausendundneunhundertsten Jahres nach Geburt seines Sohnes im ärmsten Schwarzenviertel von New Orleans das Kind einer Dienstmagd das Licht der Welt erblicken, auf dass es allem Volk große Freude bereite. Louis Armstrong war geboren; der Herr blickte um sich und sah und hörte, er hatte wohlgetan. - Yeah, man!
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