Sonnige Tage in Bad Prizren

KFOR-Mission Der Kosovo gilt jetzt als „sicheres Herkunftsland“. Aber für den Bundeswehr-Einsatz ist kein Ende absehbar
Ausgabe 43/2015
NATO-Beobachter oberhalb der Stadt Prizren
NATO-Beobachter oberhalb der Stadt Prizren

Foto: Michael Schöne/Imago

Das Grab von Ibrahim Rugova (1944–2006) liegt auf einem Hügel über Priština, doch ist der ehemalige Präsident als Übervater der Nation noch überall lebendig. Er lächelt in kosovarischen Städten friedfertig und staatstragend von mancher Wand, innen wie außen. Der seit 2008 unabhängige Staat ist von solcherart entspannter Gemütslage weit entfernt. Erst im Juli gab es einen heftigen Schlagabtausch zwischen dem Kosovo-Mäzen EU und dem Parlament in Priština. Es ging um einen Gerichtshof, der sich mit Kriegsverbrechen von Kosovo-Albanern während des Bürgerkriegs mit Serbien Ende der 90er Jahre beschäftigen soll. Erst waren die Abgeordneten dagegen, Anfang August plötzlich dafür, offenbar war der Druck aus Brüssel enorm. Doch kann von einer Entscheidung aus Einsicht keine Rede sein, was wohl auch damit zu tun hat, dass Konflikte mit der serbischen Minderheit im Nordkosovo nicht abflauen.

Abschreckende Präsenz

Eine Landstraße an der Grenze zu Serbien, die sich am Flusses Ibar entlangzieht, wird von serbischen Flaggen gesäumt. Alles in Weiß-Blau-Rot, so weit das Auge reicht. Ein stummes Aufbegehren gegen die Unabhängigkeit des Kosovo. Dejan und Gile, zwei athletische Radfahrer um die 50, die auf dieser Strecke trainieren, sind überzeugt: „Wenn wir auf albanisches Gebiet fahren und die hören, dass wir Serbisch sprechen, würde uns das nicht gut bekommen.“ Jeden Tag steigen die beiden auf ihre Räder und fahren die beflaggte Trasse ab.

Gile ist Krankenpfleger und lebt, seit er denken kann, in Mitrovica, der ethnisch geteilten Stadt mit einer Demarkationslinie zwischen beiden Volksgruppen. Seit 15 Jahren hat Gile nicht mehr die Brücke zum albanischen Viertel überquert. An deren nördlichem Ende patrouilliert serbisch-kosovarische Polizei, am südlichen sind es KFOR-Militärs. Der Übergang wird von zwei verdrehten Geländern flankiert, dazwischen haben die Serben das Pflaster aufgerissen, Erde hingekarrt, Gras gesät und Blumen gepflanzt. Guerilla Gardening als friedensstiftender Akt. So ist für Autofahrer aus dem albanischen Teil die Brücke bis auf Weiteres unpassierbar. Bewacht wird sie momentan von einer italienischen KFOR-Einheit. Gelangweilt sitzen zwei Soldaten auf den Vordersitzen ihres Militärjeeps. Gefragt, wann sie das letzte Mal eingreifen mussten, zucken sie mit den Schultern und deuten an, kein Englisch zu sprechen. Das iPhone erlaubt eine rudimentäre Kommunikation. „Wir sind Darsteller im Garten des Friedens“, ist auf dem Display zu lesen, das der eine vorzeigt.

In einem Dorf gut 20 Kilometer hinter Mitrovica liegt ein Basiscamp der KFOR. Vor der Einfahrt stoppt ein Armeebus. Sechs deutsche Soldaten mit umgehängten Maschinenpistolen springen heraus. Ihr Fahrzeug muss auf Sprengstoff untersucht werden, dann dürfen sie passieren. In diesem von allen Seiten mit Stacheldraht umzäunten Lager sind auch polnische und dänische Soldaten als Teil der Kosovo Force (KFOR) stationiert, die seit dem Kosovo-Krieg im Frühjahr 1999 unter NATO-Kommando steht. Zu diesem Aufgebot gehören aktuell 700 Bundeswehrsoldaten. Ihr Auftrag: kosovarisches Staatsgebiet bewachen. Der 2008 ausgerufene Staat darf keine eigenen Streitkräfte unterhalten. In den nach 1999 geschlossenen Verträgen ist verankert, dass die Kosovo-Armee Ushtria Çlirimtare e Kosovës (UÇK) als Gegenleistung für den kompletten Abzug serbischen Militärs demobilisiert wird. Bis heute sichert die KFOR einen Notfallmechanismus, der die Regierung in Priština schützt. Wenn etwa die Kosovo-Polizei überfordert ist, rücken KFOR-Einheiten nach. Deren Soldaten sind landesweit auf Patrouillen unterwegs, um für eine „Präsenz der Abschreckung“ zu sorgen. Niemand soll glauben, er könne unbemerkt zum Überfall auf die andere Volksgruppe rüsten. Es existiert ein Fuhrpark gepanzerter Fahrzeuge, der eine Art Allgegenwart im Kosovo garantiert. Etwa jedes zehnte Gefährt im Land dient militärischen Zwecken.

In Priština ergießt sich ein Sturzregen über verstopfte Straßen. Autos hupen unentwegt. Menschen drängen sich unter den Dächern von Bus-Stationen. Das abfließende Wasser überfordert die Kanalisation. Manche Gullydeckel halten dem Wasserdruck nicht stand und liegen auch auf der Straße, die zum Abgeordnetenhaus führt. Dort hat Parlamentspräsident Kadri Veseli sein Büro und einen zuversichtlichen Blick auf die Verhältnisse. „In diesem Jahr funktioniert die Kommunikation zwischen Kosovo-Serben und Kosovo-Albanern schon viel besser, und das auf fast allen Ebenen.“ Veseli schließt kurz die Augen, natürlich werde das Thema Sondergerichtshof wieder für mehr Zwist sorgen. Sicher eine zutreffende Prognose. Die Anschuldigungen, denen ein solches Tribunal nachgehen soll, stammen aus der Feder von Dick Marty, dem Schweizer Vizepräsidenten der Weltorganisation gegen Folter. Er will einige Alphatiere anklagen, nicht zuletzt den ehemaligen Kosovo-Premier Hashim Thaçi.

Die Windrose als Monument

Was hätte das Land außer politischem Spitzenpersonal bei möglichen Prozessen schon zu verlieren? Und könnte nicht mehr Aufklärung über die Kriegszeit das Verhältnis zwischen Serben und Albanern entkrampfen? Kadri Veseli muss nicht lange überlegen. „Wozu? Die Serben sind Bürger unseres Landes und können sich überall frei bewegen. Und sie haben nichts zu befürchten.“ Veseli spricht fließend Deutsch, in der Zeit des Milošević-Regimes in Serbien hat er in der Schweiz gelebt. Für ihn ist eine Koexistenz zwischen den Volksgruppen bitter nötig, um Ängste und Ressentiments zu überwinden.

Tatsächlich haben Albaner in Priština die gleiche Angst vor Serben wie die Radfahrer Dejan und Gile in Mitrovica vor Albanern. „Ich würde kein Albanisch unter Serben sprechen“, sagt Xhavier, ein Rentner, der Nüsse auf einem Markt in der Hauptstadt verkauft. „Die massakrieren mich doch.“ Auf den ersten Blick herrscht das gewohnte Misstrauen, doch erzählt Katrina, eine Germanistikstudentin, im Krieg sei ihren albanischen Großeltern von den serbischen Nachbarn geraten worden, vor der anrückenden serbischen Armee zu fliehen. Auch der Serbe Dejan muss zugeben, dass er Freundschaften zu Albanern pflege, und das schon seit Jahren.

Nach 1999 flossen mehr als vier Milliarden Euro Aufbauhilfe in den Kosovo. Das Land ist dennoch Lichtjahre von den Standards entfernt, die seine Schirmherren in Brüssel herbeisehnen. Nach wie vor liegt der Kosovo auf der globalen Korruptionsskala zwischen Platz 110 und 115. Von ethnischen Krawallstiftern einmal abgesehen, kann man das politische und ökonomische System mit einer Sandburg vergleichen, umgeben von einem Baugerüst, das die internationalen Paten errichtet haben, um ein Minimum an Stabilität zu garantieren.

Prizren liegt malerisch am Fuß des steinigen Sharr-Gebirges. Es gibt einen so gut wie ausgetrockneten Fluss, dem die Stadt ihre Mitte verdankt. Fährt man die Hauptstraße entlang, sieht man nichts als Abend- und Brautkleider. Die Läden bieten ausnahmslos Hochzeitskonfektion mit Plastikperlen an und sind auf eine heiratswillige Kundschaft eingerichtet. Zu den ganz in der Nähe stationierten KFOR-Soldaten haben die Händler nur selten Kontakt. Das Militärcamp liegt abgeschottet an der Peripherie von Prizren und darf nur am Wochenende für einen Spaziergang durch die Innenstadt verlassen werden.

Im Lager selbst fehlt es keineswegs an Bewegungsfreiheit, viel zu weitläufig ist das Areal. Wer sich einem Rundgang anschließt, ist auf einer Strecke von drei Kilometern unterwegs. Asphaltpisten und Grasflächen wechseln sich ab. Auf dem Parkplatz hinter einem Blechzaun stehen zwei Autos mit gesplitterten Scheiben und ausgebauter Technik. Die brauche man zu Übungszwecken, so die Presseoffizierin. Im Umfeld sind olivgrüne Lazarettlaster und gepanzerte Fahrzeuge aufgereiht, dahinter gibt es einen Landeplatz für Hubschrauber. Es riecht nach Motorenöl. Auf diesem ehemaligen Stützpunkt der jugoslawischen Armee steht die KFOR-Mission gerade unter deutscher Führung.

Die Soldaten leben nicht in Zelten, sondern teilen sich Zimmer in festen Gebäuden. Wegen dieses vergleichsweise hohen Komforts firmiert der Einsatzort zuweilen unter dem Label „Bad Prizren“. Oberst Jörn Villman hält diese Verklärung für absolut unangemessen. „Wir sind hier im Einsatz“, missbilligt er jede Relativierung. Villmann kommandiert seit drei Monaten das deutsche Korps in Prizren, sitzt in einem mit Auszeichnungen und den Porträts vorheriger Einsatzführer dekorierten Büro. Er scheint noch immer ungehalten wegen „Bad Prizren“. „Und lassen Sie mich noch eines sagen, wir befinden uns in ständiger Bereitschaft!“ Prognosen über den Ausstieg aus einer nun schon 16 Jahre dauernden Mission möchte er nicht abgeben. „Selbstverständlich möchten wir hier nicht für immer bleiben“, hatte schon die Presseoffizierin mitgeteilt.

Während der KFOR-Präsenz gab es immer wieder kritische Situationen, so 2011, als kosovo-albanische Polizei im Handstreich die Grenzposten zu Serbien übernehmen wollte. Erwartungsgemäß ließen sich das die Serben nicht bieten und verbarrikadierten Straßen, bis KFOR-Einheiten die Kontrolle über den Nordkosovo übernahmen. Ein Jahr später wurden Bundeswehrsoldaten beim Räumen einer Straßensperre beschossen, die Serben errichtet hatten, um Albaner an der Weiterfahrt in „ihr Gebiet“ zu hindern. Seither gab es keine nennenswerten Zwischenfälle mehr.

In Prizren geht die Sonne unter und wirft letzte Strahlen auf das im Stadtzentrum stehende NATO-Monument. Gut 30 Flaggen blähen sich im Abendwind und zeigen an, wer Streitkräfte in den Kosovo entsandt hat. Einheimische sitzen gleichmütig auf Bänken vor der NATO-Windrose aus Stein und unterhalten sich unbekümmert. Ruhe und Harmonie mögen täuschen, noch immer durchzieht ethnischer Hass das Innere der Sandburg und kann sie jederzeit zum Einsturz bringen.

Valerie Lux Schult war als Reisekorrespondentin im Kosovo unterwegs

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