Babyspeck ist ein Problem

Europas Frauen Lena war beim Eurovision Song Contest nicht das Wunder: Erstaunlich ist, wieviele Länder immer noch Vertreterinnen eines archaischen Frauenbildes an den Start schicken

Auch wenn mich das Lena-Fieber bisher verschont hat, ihr bemerkenswerter Sieg bei Eurovision Song Contest hat nicht nur den Rest Europas auf die Plätze verwiesen, vor allem hat es Wallehaar, Busenwogen und Kulleraugen eine Absage erteilt. Denn wo bitte trauen sich Sängerinnen noch derart ironiefrei aufgerüscht die um Errettung flehende Märchenprinzessin zu mimen? Egal ob aus Georgien, Aserbaidschan oder Armenien – das archaische Frauenbild der Vertreterinnen erblüht ungehemmt auf der Bühne des alljährlichen Gesangs-Grand-Prix. Allerdings gab es auch schon Jahre, in denen die Mädels schlicht ohne Kleid anreisten. Und die Armenierin Eva Rivas, über deren scheinwerfertaugliches Dekolletee sich Stefan Raab schon im Verlauf der vergangenen Woche lustig gemacht hatte, trug immerhin Hosen unter dem hochgeschlitzten Kleid. Was nicht viel nützt, wenn der besungene „Apricot Stone“ zu Beginn derart tittengerecht inszeniert wird.

Aber es sind ja nicht nur die Frauen, die für den Grand Prix ins vorsintflutliche Geschlechtermodell schlüpfen, den Männern ergeht es ähnlich revisionistisch: stolzgeschwellte Brust, heroische Gesten, entschlossener Blick. Gähn, so was von gestrig. Nur gut, dass das nicht länger zum Sieg zu führen scheint. Im vergangenen Jahr hat der Geiger Alexander Rybak gewonnen und in diesem Jahr eben Lena. Und dabei fragte die FAZ noch besorgt, sie wolle doch wohl nicht in diesem schlichten schwarzen Kleid auftreten, mit dem man sie seit Wochen im Fernsehen sehe? Doch tat sie! Ist ja auch viel praktischer, denn schon Françoise Cactus von Stereo Total besang so manche Gefahr: „Ich rutsche aus auf dem Linoleum. Auf den Treppen des Podiums. Das mich von meiner Trophäe trennt. Der Trophäe des Grand Prix Eurovision de la Chanson. Meine Füße verfangen sich im langen Kleid. Während ich das Podium erklettere. Das mich von meiner Trophäe trennt.“

Das ist Mary Ross bei ihrem Auftritt 1972 nicht passiert, obwohl das Kleid lang war und „schwarz-weiß“, wie der Kommentator geflissentlich betonte.

Outfit und Aussehen zu kommentieren gehört mindestens genauso zum Grand Prix wie die musikalische Einheitspampe zwischen Eurotrash und sakraler Ergriffenheit. So lästerte der Spiegel über den Babyspeck der niederländischen Kandidatin und ihr „Sha-la-lie mit Schnappatmung“. Ach so, Babyspeck ist ein Problem, Schmollmünder aber nicht. Wer neben Lena übrigens ebenfalls vom gängigen Grand-Prix-Schönheitsterror abwich, war die albanische Teilnehmerin Juliana Pasha, deren Hosenanzug in Society-Gazetten wie Gala und Co. sicherlich so wohlwollende Formulierungen wie „bewies Mut zum Bäuchlein“ hervorrufen dürfte.

Dabei ist Kleidung wirklich nicht alles. Wirklich schlimm ist der verträumte Augenaufschlag, mit dem einst Nicole friedfertig den ersten deutschen Grand-Prix-Sieg heimgefahren hatte. Schon allein deshalb ist Lena mit ihrem offenen und strahlenden Lachen eine echte Alternative zu dieser Art von Seelchen. Auch wenn diese vielbeschworene „authentische Natürlichkeit“ der 19-Jährigen einfach nur harmlos ist. Aber egal, als Teilnehmerin beim Eurovision Song Contest hat sie sich optisch in der Tat wohltuend abgehoben. Auch wenn nicht so nachdrücklich wie diese finnische Keyboarderin:

Verena Reygers, Jg. 1976, bloggt auf und schreibt als freie Journalistin über Bands, Konzerte und neue Platten. Sie findet, Mädchen sollten wild und gefährlich leben, solange sie stets ein buntes Pflaster in der Tasche haben. Auf freitag.de schreibt sie in einer zweiwöchentlichen Kolumne über Frauen und Musik. Zuletzt: Baby on board.

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Geschrieben von

Verena Reygers

Musikfetischistin, Feministin, Blames it on the Boogie

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