Sound der Unendlichkeit

Musik-Kolumne In der Wüste klingt ein Song wie ein Roadmovie. Calexico machten den Tuscon-Sound bekannt - und unsere Kolumnistin nun mit den Protagonistinnen der Szene vertraut

Es gibt amerikanische Städte, die sind untrennbar mit Musik verbunden: Nashville mit Country, Seattle mit Grunge, Portland mit den Riot Grrrls. Und dann gibt es Tucson im Süden Arizonas, eine Staubwolke von der mexikanischen Grenze entfernt.

Deren Einfluss macht sich auch in der Musik der Stadt bemerkbar: Mariachi-Trompeten im Sound und kritische Sätze zur US-amerikanischen Einwanderungspolitik in den Texten. Der Sampler Tucson Songs, der Anfang November erschienen ist, präsentiert fast 20 Künstler der lokalen Musikszene mit kleinen Seitenblicken in benachbarte Wüstenstädte wie Phoenix. Für mich ist das eine willkommene Gelegenheit, mal wieder eine Blick auf eine meiner Lieblingsbands zu werfen, die den TexMex-Desert-Americana-Sound Tucsons in der restlichen Welt wohl am bekanntesten gemacht hat: Calexico. Auf Tucson Songs hat sich das Duo gesangliche Verstärkung von der Französin Françoiz Breut geholt. Eine Zusammenarbeit, die nicht zum ersten Mal stattfindet.

"Si Tu Disais" erschien als Solo von Breut auf ihrem Album Vingt A Trente Mille Jours und als Duett mit Calexico als Bonustrack auf deren Album Feast Of Wire, das 2003 erschien. In Frankreich gilt Françoiz Breut als eine der bekanntesten Vertreterinnen des Neo-Chansons. Internationale Künstler wie von The Go-Betweens oder die Tindersticks gehören zu ihren Fans. Howie Gelb, in dessen Band Giant Sand die beiden Calexico-Musiker Joey Burns und John Convertino bis Ende der 90er spielten, widmete ihr den Song "Letter To Françoiz". Ihre Verbindung zu Tucson und der dort ansässigen Musikszene geht aber über die Verehrung anderer Musiker hinaus. Für ihr Album Une saison volée spielte Joey Burns den Bass ein, und sie revanchierte sich als Tourbegleitung und nun als Gastsängerin auf dem Tucson-Sampler.

Breut ist aber nicht die einzige Französin, die gemeinsame Sache mit den Wüstensöhnen Arizonas macht. Auch Marianne Dissard hat sich mit dem staubigen Sound Tucsons vertraut gemacht.

Marianne Dissard zog als 16-Jährige mit ihren Eltern in die USA und lebt seit Mitte der 90er Jahre in Tucson. Ihre Zusammenarbeit mit Calexico begann 1999, als sie auf dem Track "Ballad Of Cable Hogue" den französischen Gesang beisteuerte. Ihren eigenen Mix aus Americana und schwermütigem Chanson-Gesang hat Dissard bisher auf zwei regulären Alben veröffentlicht; ihr Debüt L'Entredeux wurde von Calexico-Mastermind Joey Burns produziert. Bereits 2006 hatte Burns als Produzent und Gitarrist für ihr Demo-Album Dedicated To Your Walls. May They Keep Blooming gearbeitet. Mit ihrem Ex-Mann NaÏm Amor schrieb die Musikerin, die auch eine vielbeachtete Dokumentarfilmerin ist, gemeinsame Songs für das Projekt The Amor Belhom Duo.

Und auch für die bereits vorgestellte Françoiz Breut schrieb Dissard Songs. Die Tuscon-Gang ist also auch nicht größer als jeder gewöhnliche Facebook-Freundeskreis. Auf Tucson Sounds ist Marianne Dissard mit dem Song "Neige Romaine" vertreten, von ihrem im Februar erschienen Album L’Abandon.

Es ist aber nicht nur die französische Sprache, die neben dem Englischen die Songs der Musiker in Tucson prägt, sondern natürlich mehr noch das Spanische. Viele Musiker singen ausschließlich auf Spanisch, andere mischen ihre Texte mit englischen Wörtern. Und nicht alle Musiker kommen aus dem nahen Mexiko.

Amparo Sanchez etwa stammt aus Spanien und ist die ehemalige Frontfrau der Mestizo-Band Amparanoia, zu deren Dunstkreis aus Manu Chao gehört. Ihr Solodebüt Tucson-Habana, das 2010 erschien, nahm sie in Arizona auf. Und auch Joey Burns und John Convertino mischten dort schon wieder mit. Kein Wunder, hatte Sanchez doch auch schon bei Calexico ihren Auftritt, als weibliche Stimme beim Song "Roka", der 2006 auf dem Album Garden Ruin erschienen ist. Für mich hat Sanchez von allen Tucson-verwandten Musikerinnen die beeindruckendste Stimme, voller Kraft und Furor und gleichzeitig erhaben und voller Weite. Ihre Einflüsse sieht die Musikerin vor allem im Jazz und Blues, bei Künstlerinnen wie Billie Holiday oder Nina Simone.

In ihrem Song "Turista Accidental" singt Sanchez über die mexikanischen Einwanderer, die wie zufällige Touristen wirken, aber genau das nicht sind, weil sie nicht weiterziehen, sondern bleiben, wo sie sind. Sanchez singt die Worte, die im Video auch auf den Pappplakaten geschrieben sind: "Ich bin in dieser Stadt kein Tourist. Ich bin keine Wetterfahne. Ich bin ein feuriger Blick, Hitze die vergeht und doch bleibt."

Die mexikanischen Einwanderer bzw. die Probleme, die ihnen die Einwanderungspolitik mit Zäunen, Grenzpatrouillen und anderen Kontrollmechanismen bereitet, ist in vielen Songs der Künstler Tucsons Thema. Genauso wie die Idee des Unterwegsseins. Wenn um dich herum nichts weiter als Wüste und Sand den Horizont bilden, werden Sound und Songs schnell zu vertonten Roadmovies. Immer wieder geht es um Aufbruch und Abschied, um weite Strecken, die von der Unendlichkeit des Deserts begleitet werden. Das Flirren einer Steelguitar, die blecherne Wehmut der Mariachis, der Tucson-Sound suggeriert eine ewig währende Sehnsucht, in der das Ankommen im Happy End nicht im Sinne des Songschreibers ist.

Calexico und Amparo Sanchez: "Roka"

Auf dem Tucson-Sampler wechselt die musikalische Klangfarbe von Mambo Beat über Hillbilly mit Falsett-Gesang bis zum Morricone Flavour. Gabriel Sullivan Taraf de Tucson reiten auf ihrem "The Rust, The Knife" wie von einem Postkutschenüberfall getrieben, und Brian Lopez legt sich für "El Pajaro Y El Ciervo" mit dem Schmelz eines Don Juan ins Zeug. Akustisch reduziert und am traditionellen Country und Blues orientiert dagegen ist eine Künstlerin wie Amy Rude.

Trotzdem sind auch hier wieder die Motive der kargen, aber faszinierenden Landschaft zu sehen sowie der Koffer als Sinnbild der Wurzellosigkeit und des Unterwegsseins. Amy Rude hat außerdem die eigenwillige Unangepasstheit einer PJ Harvey oder Scout Niblett in ihrem Sound und demonstriert damit am wenigsten das Charakteristikum des touristen-affinen Mariachi-Chors. In Rudes Band Heartbest spielt übrigens Marianne Dissards Ex-Mann NaÏm Amor Gitarre – schon wieder so eine Überschneidung kreativer Energie im musikalischen Kosmos dieser Stadt.

Nicht in Tucson, nicht in unmittelbarer Nähe der Calexico-Buddies zu verorten, aber in Phoenix und als weitere Musikerin auf dem Tucson-Sampler vertreten, ist Courtney Marie Andrews. Die 21-Jährige, die auch schon vor der grau verregneten Kulisse des Kölner Doms spielte (Video), macht mit ihrer Akustikgitarre einen melancholischen Singer/Songwriter-Pop, der am wenigsten nach dem aufwirbelnden Staub des Wüstensands klingt. Sehr wohl aber in der Dunkelheit einer skandinavischen, von Kerzenlicht erleuchteten Nacht erklingen könnte. Wenn auch die sonnenbeschienenen Bilder auf den Straßen der amerikanischen Großstadt eine andere Sprache sprechen.

Verena Reygers schreibt in dieser Kolumne über Genderthemen in der Musikbranche. Sie kolumniert immer montags im Wechsel mit Katrin Rönicke, die sich mit Gender- und Bildungsthemen befasst.

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Geschrieben von

Verena Reygers

Musikfetischistin, Feministin, Blames it on the Boogie

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