Quietschende Scharniere

Koalitionsarithmetik Auf FDP und Grüne wächst der Druck, das politische Lager zu wechseln

Hinnerk Fock ist ein Mann, der den Wandel im deutschen Parteiensystem so treffend repräsentiert wie nur wenige sonst. Der FDP-Spitzenkandidat in Hamburg träumt von der Rolle als Königsmacher. Die Hoffnung ist, nach alter Rechnung, nicht aus der Luft gegriffen. Jahrelang waren die Hanse-Liberalen mehr mit sich selbst beschäftigt, haben zehn Vorsitzende in 14 Jahren zerschlissen und schafften in dieser Zeit nur einmal den Sprung in die Bürgerschaft. Nun könnte es wieder klappen - mit Fock an der Spitze.

Als der im Sommer 2007 den im Streit geschiedenen Spitzenkandidaten ersetzte, hatte er gerade seinen Job als Chef des Altonaer Bezirksamtes verloren - abgewählt von einem schwarz-grünen Bündnis. Und genau deshalb, weil eine neue Politarithmetik auch in Hamburg Einzug gehalten hat, ist Focks Wunsch, CDU-Königsmacher zu werden, doch eher chancenlos. Jedenfalls nach neuer Rechnung.

Nach dem als sicher betrachteten Einzug der Linkspartei wird auch in Hamburg gelten: Wer nicht einer großen Koalition die Geschäfte überlassen will, muss für ein Dreierbündnis bereit sein oder zu neuen Ufern aufbrechen. Das Spiel, neue Bündnis-Offerten panikartig abzuwehren, ist man inzwischen gewohnt. Die Schonfrist, nach der vor dem Hamburger Urnengang aus Rücksicht auf den Wahlkampf ohnehin keine ehrlichen Überlegungen angestellt werden, läuft am Sonntag aus. Dann müssen sich vor allem zwei Parteien entscheiden - FDP und Grüne.

Wer ist bereit, die vakante Rolle als Scharnierpartei einzunehmen, sich auf wechselnde Koalitionen mit Union und SPD einzulassen? Die Grünen haben in Hessen und Hamburg einem Bündnis mit der CDU eine Absage erteilt. Da sie derzeit nichts mit der Linkspartei zu tun haben wollen, bleibt als erreichbares Wahlziel allein Rot-Grün. Die Liberalen haben sich gegen eine Kooperation mit der SPD und in Hamburg auch mit den Grünen ausgesprochen, setzen hier also auf Schwarz-Gelb.

Beides sind Modelle von gestern, deshalb wächst auch der bundespolitische Druck auf beide Parteien: Kurt Becks SPD bevorzugt im Bund ab 2009 eine Ampel-Koalition und will dafür auf Länderebene Vorbilder schaffen. Union und FDP haben ihrerseits an die Grünen appelliert und für eine "erweiterte bürgerliche" Regierung geworben - vorerst nur in Hessen.

Doch die Umworbenen zieren sich. Wer der "anderen Seite" zur Mehrheit und sich damit zur Macht verhilft, wird einen Teil seines Klientel einbüßen. Die Wähler bleiben mehrheitlich auf die "alten Lager" fixiert, während die Parteieliten sich aus strategischen Gründen stärker lagerübergreifend orientieren müssen. Wie sich das auswirken kann, erlebten die Hamburger Grünen: Nach schwarz-grünen Gedankenspielen der CDU und in den eigenen Reihen sackte die Partei in Umfragen spürbar ab. Der Landesvorstand musste mit einem Beschluss gegensteuern.

Auch die Liberalen fürchten das Votum der Wähler. In Hessen plädierten 69 Prozent der FDP-Anhänger für Schwarz-Gelb - eine Ampelkoalition hielten gerade einmal sechs Prozent für die bessere Lösung. Als "einzige echte wirtschaftsliberale Partei" hatte es die FDP zuletzt geschafft, einen Teil der vom "Linksruck" der CDU enttäuschten Unionsanhänger an sich zu ziehen. In Hessen und Niedersachsen verloren die Liberalen an alle Parteien - nur von der CDU kamen über 100.000 Stimmen dazu. Der Effekt lässt sich seit geraumer Zeit bei Wahlen im Westen beobachten. Nur einmal ging es anders aus: 2006 in Rheinland-Pfalz. Da war die FDP aus einer sozialliberalen Koalition heraus angetreten, büßte prompt ein und musste Kurt Beck die absolute Mehrheit überlassen.

Und die Grünen? Ein Wechsel ins "bürgerliche Lager" zugunsten einer machtpolitischen Option würde deutliche Verluste bei linken Wählern nach sich ziehen. Andererseits droht der Partei im jetzigen Zustand, zwischen SPD und Linkspartei aufgerieben zu werden. Aus Sicht der kleineren Parteien ist es strategisch durchaus sinnvoll, den schärfsten Gegner in der größeren Partei des eigenen Lagers zu sehen. Hier sind die Abwerbechancen am höchsten, gleichzeitig wird bei solchen "Binnenwanderungen" die Stärke des Lagers insgesamt nicht gefährdet. Auf der "linken Seite" bedeutet das wegen der Asymmetrie - hier drei, dort nur zwei Parteien - allerdings auch eine stärkere Konkurrenz als im "bürgerlichen Lager".

Das geht derzeit vor allem zu Lasten der Grünen. Anders als FDP und Linkspartei, die von markanten Merkmalen profitieren, stehen die Grünen ohne Gesicht da. Um ein Ökoimage bemühen sich inzwischen fast alle Parteien, wirtschaftsliberal ist die FDP glaubwürdiger als ein paar Oswald Metzgers und die beiden alten "linken Kerne" der Grünen - Antimilitarismus und Verteilungsgerechtigkeit - werden derzeit von der Linkspartei erfolgreicher für sich reklamiert.

In Hessen sah die Quittung für die Grünen so aus: Während Sozialdemokraten und Linkspartei in der lagerinternen Wanderungsbilanz positiv abschnitten - die SPD verzeichnete netto ein Plus von 34.000, die Linke ein Plus von 51.000 Stimmen - gingen den Grünen unter dem Strich 85.000 Wähler an SPD und Linkspartei verloren. Es hätte noch schlechter ausgehen können, wenn nicht von früheren CDU- und Nichtwählern Stimmen gekommen wären. Auch bei der Bundestagswahl 2005 hatten die Grünen unterm Strich 100.000 Stimmen ans "linke Lager" eingebüßt.

Aus einer solchen Perspektive betrachtet, ist der Druck auf die Grünen, sich über alte Lagergrenzen hinwegzutrauen, größer als bei der FDP. In Hamburg könnte es einen ersten Ausfallschritt in diese Richtung geben. Endgültig ist das Nein zu einem Bündnis mit der CDU nämlich nicht. Über die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen - lautet der letzte Satz des besagten Hamburger Vorstandsbeschlusses - entscheide bei den Grünen "immer eine Landesmitgliederversammlung".

Nach der Wahl.

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