Die pure Sünde

Schmecken In Köln trifft man sich einmal im Jahr zur größten Süßwarenmesse der Welt. Der Trend geht zur Wellnesstorte

Wie sieht eigentlich Leckerland aus? Wie eine Boutique oder ein Juwelierladen. Pierre Marcolinis Showroom für Schokolade in Brüssel ist puristisch in weiß, grau und schwarz gehalten. Seine neuesten Kakaokreationen stellt der junge Star-Chocolatier in Vitrinen aus: gefüllte Golfbälle, glasierte Himbeerherzen und Schokohohlkörper mit Blattgold. Was er aus Schokomasse zaubert, ist Avantgarde: eine Thymian-Orangen-Praline zum Beispiel, würzig, fruchtig, ein Schokoladengedicht. In Köln, auf der größten Süßwarenmesse der Welt, stellt er nicht aus. Wozu auch?

Auf der Kölner Messe geht es weit profaner zu. Drei Briten in dunkelblauen Anzügen werfen sich mit versteinerten Mienen flache, bunte Ballonscheiben zu, den ganzen Tag. Sie fangen, drehen die "Swet Cred"-Scheibe und schicken sie wieder auf die Reise durch den Raum, treffen auch mal Messebesucher am Kopf. Dann beginnen sie ein Werbegespräch über Buntes, Salziges, Lustiges und Knabberiges. Genau so hat man sich das Zuckerbäckerparadies, die Schleckermeile der Back- und Knusper-Industrie, immer vorgestellt.

Zwei bärtige chassidische Juden aus Belgien in dunklen Mänteln und Hüten suchen für den israelischen und den amerikanischen Markt einen Hersteller für koschere Pralinen: "Ohne Tierfett, Gelatine, Milch", erklärt Leon Strauss. Ein Ehepaar aus den Niederlanden bietet am kargen Nachbarstand Selbstgebackenes an. An anderen Ständen sprudelt ein Schokobrunnen, hängt ein Himmel voller Mozartkugeln über goldenem Flügel, schwebt ein Leichtstoffzelt über weißen Kaugummis, schrauben sich wuchtige Fruchtgummistangen aus dem Boden.

Oberbürgermeister Fritz Schramma lässt sich in Pralinen aufwiegen. In Köln wird geklotzt und nicht gekleckert. Denn die Branche verdient gut. Immerhin verspeist der Bundesbürger 31, 4 Kilogramm Süßes im Jahr im Wert von 112 Euro. 4.500 verschiedene Produkte gibt es, und - trotz Konsumflaute - im vergangenen Jahr ein Umsatzplus von fast drei Prozent, im Ausland sogar von zwölf Prozent.

Wie jedes Jahr Ende Januar zeigen rund 1.600 Aussteller aus 72 Ländern am Rhein, wohin der Trend bei süßer und salziger Ernährung geht. Einer der wichtigsten heißt: zuckermunter und chipsfit. Gesundes, kalorienärmeres Knabbern ist, glaubt man der Branche, fast schon "Diät-Naschen". Dazu gehören japanische Algenchips, Geisha-Knusperbeutel mit Spinat, Erbsen, Karotte, Kürbis, Seegras und Sesam, zuckerfreie Bonbons aus Dänemark, Weightwatchers-Muffins und Öko-Zuckerwatte.

Süßes, scheint es, ist in Zukunft gar nicht mehr süß, und Fettes nicht mehr fett. Aber das Katjes-Prinzip "Naschen ohne Fett" hat einen Haken. Die kleinen Weichen, "Yoghurt Gums" oder "Dolci di Yoghurt" mit Amaretto-, Cappucino- oder Tiramisu-Aroma sind vielleicht fettarm und so leicht, dass sie Heidi Klum in der Werbung zwischen den Zehen trägt, aber eben auch knallsüß. "Gesund und lecker schließen sich immer noch ein bisschen aus", räumt Uli Krahn vom Keksgiganten Griesson ("Prinzenrolle") ein.

Eine goldglänzende Kalorienbombe, pure Sünde, stellt die Köln International School of Design aus - ein ironisches Spiel mit Magerwahn und Fettwaagenmanie. "Sweet Dreams - die süße Kunst des Verpackens" hieß die Aufgabe der Studenten. Sehr freche, lustige Ideen haben sie gehabt: fruchtige Trostpflaster, die Schokoladenkühlbrille Augenschmaus, German Gums in Form von Gartenzwerg, Putzeimer, VW, Biermaß und Bürostempel, Ego Shooter, süße Infusionen für jede Stimmungslage und Noobs, weiße Schokoküsse mit Punktaugen und hilflosem Blick, die sich vor dem Verschlingen fürchten. Der süße Rest der Messe ist uninspirierter.

Ein Hauch Fitness, wissen die Hersteller, schadet nie. Weniger Farbstoffe, Konservierungsstoffe, Sahne sind im Kommen. "Wir wollen noch Genuss verkaufen, aber nicht, dass Kunden denken, bei der Torte nehme ich fünf Kilo zu", sagt Sabine Schlehde von der Teigfirma Kathi in Halle, die jetzt "Wellnesskuchen" auf den Markt bringen. Limette-Buttermilch, Blutorange-Yoghurt, Himbeer-Frischkäse und Mango-Milchschaum heißen die Sorten, mit Vollkornmehl und Rama-Cremefine statt Sahne.

"Natürlich werden übergewichtige Kinder der Ernährungsindustrie angekreidet, aber das ist eine Frage der Dosierung", erklärt Sabine Schlehde. "Fünf Torten am Tag wären eben unvernünftig." Natreen verkauft Weingummi als "Vitaminwichtel" mit acht Vitaminen und Ballaststoffen, Griesson erweitert seine Linie "Leicht und Kross", "die Alternative zum Knäckebrot für junge, ernährungsbewusste Frauen" um etwas spröde "Knusperwellen" aus Sesam und Weizen, mit Rezepten für Ruccolasalat oder Gemüsesalsa.

Ein zweites großes Thema lautet Cross-Promotion. "Wir kombinieren einfach Cracker, Dip und Gewürze oder Kekse und Kaffee. Die Gewürze für den Quark kommen von Fuchs, der Kaffee von Nescafé", lässt die Firma Griesson verlauten.

Der dritte große Trend heißt ungewöhnlich schlemmen. Pâtissier Oliver Coppeneur aus Bad Honnef serviert Schmelz für Abenteurer: Trinkschokolade mit Chili oder Vanille aus Kugeln, die in Milch gelöst werden. Außergewöhnlich sind seine 32 Sorten handgeschöpfter Schokolade. "Am besten läuft Chili Praliné Highland Whiskey und Weißer Trüffel mit Blaumohn", sagt der gelernte Konditor. "Weißer Trüffel mit Blaumohn war eigentlich ein Dessert, das ich für den Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker in Bonn kreiert hatte. Das kam so gut an, dass ich daraus eine Schokolade entwickelt habe."

Mit drei Euro pro Tafel sind die Gourmet-Schokoladen von "Coppeneur" erschwinglich. "Ich will keine Schokolade verkaufen, bei der das Unterbewusstsein dem Esser ständig sagt, dieser Biss hat dich drei Euro gekostet, eine halbe Stunde Arbeit", sagt Coppeneur. Seine schwarzen Tafeln mit bunten Bildern und ungewöhnlichen Aromen wie "Schwarze Trüffel an Zuckererbsen", "Babybanane mit Früchte-Chutney", "Erdbeere mit grünem Pfeffer" oder "Pumpernickel mit Kirschwasser" sind aber auch nichts für konservative Esser im dunklen Zweireiher, die auf Haselnuss-Schokolade stehen, sondern etwas für kulinarisch Neugierige. "Genussliebende Menschen müssen Sie schon überraschen."

Überraschungen liefern auch andere Stände. Da gibt es Zuckerbohnen, "Jelly Beans", die nach geröstetem Knoblauch schmecken, Dresdner Stollen mit Bratapfelgeschmack, Trabbis aus Schokolade, Sommerlebkuchen "Runder Brauner", Gruselkekse, saure Sprays, die die Zunge verfärben, Tabak-Aroma-Bonbons ohne Nikotin für angehende Nichtraucher, Schokolade mit Hanf oder aus Schafsmilch mit Aloe Vera für Allergiker, Kaugummis mit Koffein, Lampenfieberpillen mit Traubenzucker, Schokolinsen mit Liebeskummer-Trost, Barbie-Candy, Blubberbrause und eine ganze Welt aus Marzipan.

Beethoven zieht die Lippe tief, die Stirn in Falten und schaut, mit roter Schleife dekoriert, in Zellophan gehüllt, ganz aus Edelmarzipan, missmutig in die Welt. Neben ihm liegt auf Silbertablett ein halbes, rundes, rosa Ferkel mit Kleeblatt im Maul, das friedlich lächelt, als wüsste es nicht, was ihm blüht. Marzipanstände gleichen einer Mischung aus Kaufmannsladen, Kiosk und Café. Beim Lübecker Traditionshaus Niederegger stehen Obstschalen mit echt wirkenden Orangen, Bananen, wurmstichigen Äpfeln, Erdbeeren und Birnen. Für Gourmets wird "Marzipan Caffee Latte" und Marzipan-Trinkschokolade ausgeschenkt, das Richtige für kalte Tage an der See. Dabei kommt Marzipan aus dem Orient, die Kreuzritter brachten es nach Europa. Der Name stammt übrigens von der Bezeichnung einer Spanschachtel (Marzapane), in der man Gewürze und Konfekt aufbewahrte.

In die Geschichte der süßen Ware versunken fällt der Blick plötzlich auf eine streng blickende Altherrenrunde am Stand von H.J. Funsch, Edelmarzipan seit 1936, aus Bayreuth. "Setzen Sie sich erst Mal, woher kommen Sie? Sie arbeiten doch für einen Mitbewerber!", sagt ein Mann im schwarzen Zweireiher finster. "Natürlich, ich bin Marzipanspion, Mandelmehl 007, unterwegs im Auftrag der Zuckermafia", denkt man und hat sofort wieder Mitleid. Wer zwischen so viel süßen, klebrigen Träumen wacht und auch verwegen Neues präsentiert, muss auf der Hut sein.

Sexy ist die größte Süßwarenmesse der Welt: überall prickelt, blubbert, schäumt, schleckt und leckt es. Ein blondes Ahoi-Mädel im Matrosenanzug serviert Fruchtsäfte mit Brausepulver, für die Salmiakbonbons Sallos wirbt ein Plakatmodel in Lack und Leder. Und ein stattlicher DeBekeulaer-Prinz in rotem Samt und blauem Umhang dreht sich geduldig vor einem riesigen Bilderbuch. Einige Frauen haben schon nach seiner Telefonnummer gefragt. Andere haben nur noch ein Ziel: Nach einem Tag zwischen so viel Zuckerware ist einem ganz übel. Morgen wieder Triathlon vorm Fernseher. Knabbern, futtern, abnehmen.


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