Im Schwarzwald spielt Glasnost Glamour. Keramikimplantate, Krampfader- und Faltenbehandlungen, Brustverkleinerungen, aber auch Prävention in Sachen Herz, Kreislauf und Magen stehen ganz oben auf der Wunschliste der Gäste. Die meisten kommen zum Gesundheits-Check ins Institut Prevent, in Brenners Residenz Turgenjew oder in die Max-Grundig-Klinik. "Viele arbeiten sehr hart und wissen, dass sie dafür fit sein müssen", sagt Irina Schmidt, 40, Geschäftsführerin der Baden for you GmbH, die in Baden-Baden russische Gäste betreut.
"Sport, Diät, Entspannung, ganz Russland ist auf einem Wellness-Trip", erklärt ihre Kollegin Anna Ivanova, die vor zwei Jahren von der Moskwa an die Oos gezogen ist. "Viele hören mit dem Rauchen auf, essen nichts mehr nach 16 Uhr, spielen Golf, lassen sich massieren oder machen Yoga." Der Grund für den neuen Gesundheitskult liege auf der Hand: "Etliche Russen haben jetzt Geld und gesehen, dass man damit gut leben kann. Jetzt haben sie nur noch Angst, nicht mehr lang genug zu leben."
Mit 25.000 Übernachtungen im Jahr haben Russen die Amerikaner, Araber, Schweizer und Japaner längst abgehängt. "Baden-Baden ist eine kleine Stadt, in der man anonym bleiben kann", sagt Irina Schmidt. "Viele lassen bei der Anmeldung ihren Familiennamen weg." Erst am Flughafen, wenn sie eine Visitenkarte bekommt, sieht sie oft, dass sie gerade den Vorstand eines Stromkonzerns oder den Gouverneur einer Region verabschiedet hat.
Es vergeht kaum eine Woche, in der nicht eine russische Delegation das Casino Baden-Baden besucht. Die meisten kommen wegen des Florentiner Saals, des "Saals der 1.000 Kerzen", in dem Dostojewski sein Vermögen verlor. Der Schriftsteller war sein Leben lang verschuldet - anders als viele, die hier heute zwischen alten Spiegeln, rotseidenen Wänden, Rokokogemälden und goldlackierten Lüstern hohe Einsätze riskieren - an manchen Tischen wie vor 200 Jahren.
Leise rollt die Kugel, der Croupier fordert: "Bitte das Spiel zu machen!" Es ist diese Mischung aus Eleganz und Abgrund, aus Fieber und Verlorenheit, die bis heute fasziniert. Hier Geld, und zwar viel Geld zu verlieren, hat Tradition: Tolstoi war es nach 48 Stunden los, auch das seiner Freunde. "Ich bin von lauter Lumpen umgeben!", schrieb er 1857 in sein Tagebuch. "Und der größte Lump bin ich!"
Russische Zaren, Adlige, Diplomaten, Künstler und Kosmopoliten stiegen im 19. Jahrhundert in der "Capitale d´été", der Sommerhauptstadt Europas ab: Fürst Gagarin, Staatsrat Turgenjew, Rachmaninow, Tolstoi, Dostojewski und Gogol. Für Zarin Elisabeth, eine badische Prinzessin, war die Stadt an der Oos sogar "einer der schönsten Orte der Welt". Sie kamen aber vor allem, weil das Glücksspiel im Zarenreich verboten war.
Was passiert mit einem, der sich dem Spiel ausliefert, das Glück einfordert? "Russen sind zerrissene Menschen, sündig und heilig", erklärt der Literaturkritiker Jewgeni Pazukhin, der seit 1996 in Baden-Baden lebt. "Ein russisches Sprichwort sagt: Wenn du nicht sündigst, musst du nicht beichten. Wenn du nicht beichtest, rettest du dich nicht." Und dann lacht er. "Das ist der Teufelskreis, die russische Seele. Russen sind immer voller Gewissenbisse." Mit seiner Frau, der Übersetzerin Elena Jaworonkowa, hat Pazukhin den ersten literarischen Stadtführer auf Russisch geschrieben: Budem djelat Baden-Baden! (Machen wir Baden-Baden). Baden-Baden galt schon immer als Symbol des sorglosen Lebens. "Es gibt niemanden, der ernsthaft krank wäre. Alle kommen nur hierher, um sich zu amüsieren", schrieb Gogol 1836. "Baden-Baden ist ein russischer Traum", sagt Pazukhin.
"Es war eine Märchenwelt, irgendwo in Europa. Bevor wir reisen konnten, wussten wir ja nicht, ob es wirklich existiert". Als die Pianistin Elena Kuschnerowa nach zehn Jahren Auftrittsverbot in Moskau keine Zukunft mehr sah, startete sie mit 34 in Baden-Baden eine zweite Karriere. "Hart war das", obwohl sie vom berühmten Tschaikowski-Konservatorium kam. "Das hat hier niemanden interessiert", sagt sie, raucht und nippt am Tee im altrosafarbenen Café König.
Inzwischen hat sie den Preis der Deutschen Schallplattenkritik bekommen, tourt durch Amerika und Asien. Nur manchmal, wenn sie reist, überlegt sie noch: Kleid, Programm, alles im Koffer, Papiere? "Es ist schwer, die Schranke im Kopf loszuwerden", sagt sie. "Der beste Witz in jedem russischen Stück war: Ich muss schnell geschäftlich nach Paris. Dieser Satz gelingt uns einfach nicht."
Anfangs wollte Kuschnerowa mit Landsleuten nicht viel zu tun haben. "Das war ein abgeschlossenes Kapitel." Peinlich waren sie ihr, Pelzmantel bis zum Boden, auch bei Regen, grell geschminkt, ohne es zu merken. "Wir haben immer die größten Raketen der Welt, die gefährlichsten Herzinfarkte und die härtesten Schlaganfälle."
Etwa 800 Baden-Badener stammen aus der ehemaligen UdSSR, darunter viele neue Arme, Russlanddeutsche, die in gelben Kastenbauten auf dem Briegelacker wohnen - am Autobahnzubringer. Man trifft sie auch in der alten, russischen Kirche Zur Verklärung des Herrn mit goldenem Zwiebelturm, die Fürst Gagarin 1882 bauen ließ. Im Gottesdienst zünden Frauen in dicken Socken, Röcken und Wollmützen Kerzen an. Der Priester, ein Serbe, sei streng, sagen viele, zur Kommunion müssen Frauen Rock und Tuch tragen. Im goldverzierten Innern zeigt sich Russlands alte Pracht, wenn sich das Licht in den Fenstern bricht und den Raum in warmes Rot und Grün hüllt.
Nicht alle Baden-Badener sind über den Zuzug aus dem Osten begeistert. Von "Ausverkauf" ist die Rede. Ein Viertel aller neuen Villen, die in den letzten fünf Jahren gebaut wurden, haben Russen gekauft. "Viele haben einfach kein Vertrauen in die Wirtschaft, die Politik unseres Landes", sagt Irina Schmidt. "Wer heute einen wichtigen Posten hat, kann ihn morgen verlieren. Vor allem deshalb investieren sie im Ausland, kaufen Immobilien als Zukunftssicherung. Und legen auch ihr Geld hier an, obwohl es weniger Zinsen dafür gibt." Viel zu viel Wind werde um die Russen in Baden-Baden gemacht, findet dagegen Brigitte Goertz-Meissner, Geschäftsführerin der Kur Tourismus GmbH: "Es sind nicht mal ein Prozent, die hier leben."
Doch das Stadtbild prägen sie stark. In Boutiquen stehen Schilder "Wir sprechen russisch". Der Europäische Hof hat einen russischen Salon, Brenners Park und Spa Hotel eine Dependance in Moskau und eine russische Gästebetreuerin. Im aristokratischsten Haus am Platz liegt das erste deutsche Hochglanz-Magazin in russischer Sprache aus.
In der Lobby knistert Kaminfeuer, Gäste versinken in roten Sesseln unter Gemälden im Goldrahmen - mit Blick auf den Park. Ex-Premier Jewgeni Primakow, Stardirigent Valeri Gergiew oder Alexej II., Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, steigen hier ab. Manche buchen ein 300-Euro-Zimmer für sieben Monate, um ihr Kind in Baden-Baden zur Welt bringen - das hat Klang. "Die Stadt ist sicher reizvoll", sagt Direktor Frank Marrenbach, "weil sie für eine glorreiche Zeit russischer Geschichte steht. Verklärung spielt da schon eine Rolle."
Und was auch eine Rolle spielen dürfte: Die meisten fühlen sich in Baden-Baden sicherer als in Moskau oder St. Petersburg. Denn in der Kurstadt geht alles seinen geregelten, gemächlichen Gang. Im römisch-irischen Friedrichsbad lassen es sich Männer und Frauen wohl gehen wie um die Jahrhundertwende. Nackt, auf einem Leinentuch liegend, steigt in heißem Dampf der Puls unter bunt bemalten Kacheln, Hähnen und Blumen vor einer Hügellandschaft in Zitronengelb und Himmelblau. Am Ende, nach einer Odyssee von Becken zu Becken, nach ordnungsgemäßem Schrubben, Schwitzen, Duschen, Trocknen, Cremen, liegen die Besucher energisch eingeschlagen vom Wachpersonal in blauen Decken unter einer Kuppel, totengleich, total entspannt.
Baden-Baden ist einzigartig in seiner mondänen Verschlafenheit, seiner braven Nostalgie. Keine Stadt lebt so sehr von der Imagination, vom verlorenen Glanz. Es gibt nicht viele Städte, in denen eine Gruppe älterer Damen geduldig vor einer leeren Konzertmuschel ausharrt - eine halbe Stunde lang. Vielleicht kommt das Orchester noch. Oder der Kaiser. Baden-Baden eint diese kollektive Erwartung. Niemand wäre wirklich überrascht, wenn hier in der nächsten Minute ein preußischer Regent um die Ecke böge. Oder Fürst Menschikow mit seiner Troika.
Vielleicht ist das so, weil die kleinste Weltstadt der Welt - auf sieben Hügeln gebaut wie Rom, "Aquae" genannt wegen der heilenden, dampfenden Quellen - nie mehr war als ein Amüsierbetrieb für Generäle, Diplomaten, Adlige, Literaten und ihre Familien, ihr Gefolge, ihre Mätressen, nie offiziell Nabel des politischen Geschehens. Mit Depeschen wurde Russland von hier aus regiert, schreibt die Slawistin Renate Effern in ihrem Buch Der dreiköpfige Adler - Rußland zu Gast in Baden-Baden.
Heute besitzt die Stadt an der Oos acht Golfplätze, das zweitgrößte Opernhaus Europas, eine elegante historische Rennbahn und ein Zentrum für moderne Kunst, das Museum der Sammlung Frieder Burda, entworfen von New Yorks Stararchitekt Richard Meier. Baden-Baden ist ein Rückzugsparadies für Superreiche, gesetztes Glück, auch aus fremdem Blick, für Franzosen die französischste Stadt Deutschlands, für Russen die russischste. Und die reichste: Hier leben - trotz dauerleerer Stadtkasse - die meisten Millionäre Deutschlands.
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