MEDIENTAGEBUCH Dieser Herbst ist anders in Los Angeles, anders als in vergangenen Jahren. Alle reden von "off-beat". Ein Wort, das im Sprachschatz der Westküste ...
Dieser Herbst ist anders in Los Angeles, anders als in vergangenen Jahren. Alle reden von "off-beat". Ein Wort, das im Sprachschatz der Westküste fehlt. Es gehört an die Ostküste, vor allem nach New York. Dort haben Filme, die off-beat sind, von alters her ihren Platz - doch nicht in Hollywood, wo die "richtigen" Filme gemacht werden!
Schlagartig hat eine Entwicklung eingesetzt, die die Studiobosse schon vor zwei Jahren vorausgeahnt haben und auf die sich die Industrie vorbereitet hat - aber dass sie gleich mit solcher Heftigkeit einsetzt, hat niemand so recht erwarten wollen.
Die Filme, die den Sommer und den Frühherbst beherrscht haben, sind Filme, die vom üblichen Schema der Branche erheblich abweichen. Der Film, der Hollywoods Idealen (großes Budget und star
s Budget und starke Massentauglichkeit) noch am nächsten kommt und der im Kino Geld eingespielt hat, STAR WARS- Episode1 - The Phantome Menace stammt ausgerechnet von George Lucas, der mit Hollywood nichts zu tun haben will und der sein eigenes unabhängiges Imperium "ILM - Industrial Light and Magic" fernab von den Studios der Disneys, Columbias "20th Century Fox" und wie sie alle heißen, betreibt. Und als ob es damit nicht genug wäre, hat Lucas für die Hauptrollen auch noch Ewan McGregor und Liam Neeson engagiert, die beide aus ihrer Abneigung gegen den Studiobetrieb keinen Hehl machen. Dass Liam Neeson seit Abschluss der Aufnahmen bei jeder Gelegenheit äußert, dass er noch nie einen so langweiligen Film gedreht habe, dürfte Mr. Lucas allerdings weniger gefallen - und hat auch den Charakter einer Schutzbehauptung, denn erstmals in der Geschichte des Zelluloids kann mit Fug und Recht behauptet werden, dass die "Creatures", die künstlich erschaffenen Figuren des Films, besser "spielen" als die menschlichen Schauspieler.Ausgerechnet dieser Big-Budget Film eines Hollywood-Abtrünnigen ist nun Hollywoods letzte Hoffnung. Wenigstens ein Big-Budget Movie, der Geld verdient. Ansonsten herrscht Entsetzen. Der größte Hit des Sommers - Notting Hill hat bis auf die Gage von Mrs. Roberts, die im Film übrigens exakt benannt wird, eigentlich nichts gekostet, ist in England von der kleinen, einst unabhängigen Firma Miramax hergestellt worden und hat den großen Filmen gewaltig die Show gestohlen.The Sixth Sense, eine mittelbudgetierter Film mit Bruce Willis als Psychotherapeut (sic!), von einem indischen (!) Regisseur gedreht, ist der bisherige Hit des Herbstes und hat bereits im Inland über 200 Millionen Dollar eingespielt. Bruce Willis rührt im ganzen Film keine Pistole an, sondern kümmert sich um einen scheinbar psychisch gestörten Jungen und hat damit die Herzen der Kinozuschauer im Sturm erobert.Aber damit nicht genug: The Blair WitchProject, ein Film von zwei Filmstudenten, die vorher noch nie einen Film gedreht hatten und die das ganze Ding auf Consumer-Kameras im Videoformat gefilmt haben, hat insgesamt 75.000 Dollar gekostet und bisher an die 100 Millionen Dollar eingespielt. Dass die Studiobosse schlaflose Nächte verbringen, kann niemand mehr verwundern.Schon einmal, vor zwei Jahren, direkt nachdem Titanic abgedreht war und beinahe der gesamten Fox-Mannschaft die Jobs gekostet hätte - war der Ankauf der gesamten Independent-Firmen (das sind Firmen, die Filme unabhängig von den Studios produzieren, meistens auf eigenes Risiko und mit begrenzten Budgets) Talk of Town: Den Industrieführern, die ähnlich wie in Europa die Autobosse, ihre Firmen sehr weit vorausschauend positionieren, war aufgefallen, dass Filme, die über 100 Millionen Dollar kosten und langsam zur Regel wurden, ihre Produktionskosten nicht mehr an der Kinokasse, also direkt beim zahlenden Publikum, sondern meist über Fernsehpaketverkäufe, Merchandising (den Verkauf von Nebenprodukten wie zum Beispiel Spielfiguren, begleitende Bücher oder Comics und so weiter) und ähnliche Nebenauswertungsformen verdienen. Diese Entwicklung wäre etwa so, wie wenn beim Verkauf eines Autos der Hersteller draufzahlen würde, wenn er dann aber - weil genügend Jugendliche das Auto "cool" finden, zum Beispiel Bobbycars, T-Shirts und Armbanduhren mit dem Logo des Autos in solcher Menge verkauft, dass er nicht am Auto, sondern am Bobbycar oder den Armbanduhren verdient.Die Studiobosse hatten damals, vor zwei Jahren, um dieser Entwicklung zu begegnen, praktisch alle Independent Companies aufgekauft und begonnen, billigere Filme produzieren zu lassen. Wie Recht sie hatten, dürfte ihnen damals noch nicht klar gewesen sein.In diesem Herbst hat ausgerechnet Dreamworks, die junge Firma von Spielberg, Geffen und Jeffrey Katzenberg (vielleicht dem eigentlichen Strategiegenie der Branche), die das junge Studio eher mit märchenhaften Filmen beim Publikum eingeführt hatten und die damit mäßige Erfolge verzeichneten, hat nun den vielleicht entscheidendsten Wurf des Jahres gewagt: American Beauty, in dem Kevin Spacey und Anette Benning ein normales amerikanisches Mittelstandspaar in der Krise spielen, wurde von Dreamworks ausgesprochen vorsichtig mit "nur" 300 Kopien landesweit gestartet (der Durchschnitt für einen großen Film liegt bei 2.000 Kopien, das heißt, dass der Film in 2.000 Kinos gleichzeitig zu sehen ist) und hat, wohl selbst zur Überraschung des Studios und seiner Besitzer, einen durchschlagenden Erfolg.Am ersten Wochenende hat der kleine Film, in dem Kevin Spacey bemerkt, dass sein Leben keinen Spaß mehr macht, dass er seine Frau nicht mehr liebt und sich ausgerechnet in die Freundin seiner Tochter verliebt - damit aber eine Kette von Ereignissen auslöst, die alle im Film näher an ihr Glück führen - bereits über acht Millionen Dollar verdient. Das sind die Zahlen, die in Hollywood der Maßstab aller Dinge sind. Dreamworks will die Basis des Films jetzt verbreitern und setzt wahrscheinlich weitere 300 Kopien, nun auch in ländlichen Gebieten, ein.Sollte der Erfolg des kleinen Films, der das Leben von Erwachsenen so ehrlich und genau untersucht und der ganz ohne Tricks, große Budgets, künstliche Landschaften und falsche Gefühle das breite Publikum fasziniert, weil er ernsthafte Lebensfragen reflektiert, anhalten, könnte es passieren, dass ähnlich wie Anfang der neunziger Jahre der Film DrivingMiss Daisy (in Deutschland "Miss Daisy und ihr Chauffeur"), der eine Liebesgeschichte im Alter erzählte und eine Welle "menschlicher" Filme auslöste, American Beauty mit seinem Erfolg wieder eine Welle ernsthafter, ehrlicher Filme über das Leben auf unserem Planeten nach sich zieht. Das wäre dann nach Hollywood-Slang zwar reichlich off-beat, aber nach kurzer Zeit wäre dann off-beat vielleicht schon wieder on-beat. Was den Kino-Gängern durchaus zu wünschen wäre.
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