Ein Riesenproblem ist, dass wir über Sexualität immer noch so denken wie vor hundert Jahren. Damals, um 1900, ereignete sich die erste sexuelle Revolution. Sexualforscher wie Sigmund Freud veröffentlichten Werke, die uns noch heute beschäftigen. Die heutigen Geschlechter-, Liebes- und Sexualverhältnisse können sie uns aber nur noch teilweise erklären. Auch mit den Ansichten, die aus der Zeit der zweiten sexuellen Revolution um 1968 stammen, kommen wir nicht mehr weit. Denn seit den achtziger Jahren haben sich die Sexual- und Geschlechterverhältnisse in den reichen Ländern des Westens so drastisch verändert, dass von einer dritten oder neosexuellen Revolution gesprochen werden kann, die bis heute Neosexualitäten, Neogeschlechter und Neoallianzen hervorbringt.
Wann immer Sex in den Medien auftaucht, wir darüber reden, werden die unterschiedlichen historischen Ebenen der Sexualität vermengt und verwischt. Das erschwert die Debatte, es führt zu Missverständnissen und Intoleranzen – unnötigerweise.
Kalkulierend in die Marktgesellschaft eingefügt
Während die symbolische Bedeutung der alten Sexualität, die Paläosexualität genannt werden sollte, extrem hoch war, unterliegen die Neosexualitäten oft nach einem medialen Strohfeuer einem Prozess der allgemeinen Banalisierung. Sie sind nicht mehr die große Metapher der Lust und des Glücks. Wurde die alte Sexualität als dramatisch erlebt, sind die neuen Sexualitäten zu einer angenehmen Freizeitbeschäftigung entdramatisiert worden. Wurde früher die sexualmoralische Sphäre politisiert, wird sie heute individualisiert. War die Paläosexualität mit der Utopie verbunden, die ganze Gesellschaft befreien zu können, sind die Neosexualitäten konkretisierend und kalkulierend in die Marktgesellschaft eingefügt oder existieren unbehelligt an ihrem Rand.
Zur Zeit der 68-Revolte drehte sich alles um sexuelle Lust. Sie war auch die Bedingung der Möglichkeit, abweichende Sexualitäten anzuerkennen. Aus dieser Lust der zweiten sexuellen Revolution, die immer wieder an die Wollust der ersten sexuellen Revolution erinnerte, ist inzwischen die Wohllust, die Wohlfühl-Lust, der dritten sexuellen Revolution geworden: Nur keinen negativen Stress bei der Suche nach einem Abenteuer, dann doch lieber bei einem Glas Prosecco durch das Internet gleiten. Das heißt aber nicht, dass die Neosexuellen nicht auch den Kick und den Thrill suchen – wie ihre öffentlichen Paraden zeigen. Und es heißt auch nicht, dass sie vor lauter Entspannung die Schattenseiten der Sexualität – Krankheiten, Traumatisierungen und Gewalt – ausblenden, eher im Gegenteil.
Im Zentrum der alten Sexualität standen die heilige Ehe, das Problem der Verhütung und der Abtreibung. Hinzu kamen die Pubertät und die sexuelle Aufklärung in der Schule, eine verhüllte Nacktheit und pornografische Stellungen beim Koitus. Der Orgasmus war der Höhepunkt schlechthin. Der Mann war in jeder Hinsicht der Frau überlegen. Den jungen Mann trieb eine Dampfkesseltriebhaftigkeit an. Die anständige Frau war sexuell frigide.
Aufstieg der Selbstbefriedigung
Charakteristisch für die Neosexualitäten dagegen ist zunächst einmal die Renaissance der weiblichen Sexualität als eigenständige Sexualform. Hinzu kommen eine Auseinandersetzung um Geschlechterdifferenzen und ein Frau-Mann-Verhältnis, in dem die Geschlechter moralisch gleichwertig und nicht mehr voneinander finanziell abhängig sein sollen. Liebesbeziehungen sind für den Moment verbindlich, können aber jederzeit von Männern wie Frauen aufgehoben werden. Alte feste Beziehungen gehen über in neue weiche Beziehungen. Der Aufstieg der alten Selbstbefriedigung zu einer sogar in Beziehungen akzeptierten eigenen Sexualform und die insgesamt immer größer werdende Liebe zu sich selbst kreierten so etwas wie Selfsex. Dazu passen diverse Formen der Internetsexualität einschließlich bisher unbekannter Formen der sexuellen Süchtigkeit.
Viele früher verpönte und verfolgte sexuelle Vorlieben und Praktiken sind inzwischen entpathologisiert und weitgehend von Scham und Schuld befreit worden, insbesondere Homosexualität und Bisexualität – wohlgemerkt bei uns, nicht in anderen Kulturkreisen, wo Homosexuelle mit Gefängnis und Tod bedroht werden. Bei uns dagegen können auch fetischistische, transvestitische oder sadomasochistische Vorlieben offen gelebt werden. Während sich junge Leute für thrillproduzierende, halbperverse öffentliche Events begeistern, versuchen alte Männer, sich dank prothetisierender Präparate wie Viagra noch einmal eine jugendliche Gliedversteifung zu verschaffen. Nach wie vor verpönt aber sind pädophile und pädosexuelle Verhältnisse, die durch erschütternde Missbrauchsfälle jede Chance auf eine kulturelle Akzeptanz verloren haben.
Neben die alte Ehe und die alte Familie sind durch die dritte sexuelle Revolution auch diverse Beziehungsgeflechte von Personen mit differenten sexuellen Orientierungen als Neoallianzen getreten. Das reicht von der Kleinstfamilie, die aus einem Erwachsenen und einem Kind besteht, über die gleichgeschlechtlichen, staatlich anerkannten Lebenspartnerschaften bis hin zur Polyamorie, bei der eine Person gleichzeitig mit mehreren anderen in offenen Liebesverhältnissen lebt. Die kulturelle und wissenschaftliche Rechnung „ein-Mann-und-eine-Frau“ wird immer altertümlicher. Insgesamt sind heute Freundschaftsbeziehungen ohne Blutsbande für viele Menschen wichtiger als die Herkunftsfamilie.
Als Neogeschlechter stoßen wir auf diverse Formen, die mit der bisherigen kulturellen Zweigeschlechtlichkeit spielen oder ihr widersprechen. Zu denken ist an Intersexuelle, die körperlich zwischen den beiden vorgegebenen Geschlechtern stehen und nach wie vor von der Medizin schandbar behandelt werden. Oder an Transgender, die geschlechtlich psychosozial abweichen, und an Transsexuelle, die das angeborene Bio-Geschlecht aus eigener Kraft oder mit Hilfe von Psychotherapeuten und Ärzten aufgeben. Ein atemberaubendes Ergebnis ist dann, dass Bio-Männer als operierte Neo-Frauen eine Bio-Frau heiraten, die jetzt ein operierter Neo-Mann ist.
Damit aber nicht genug. Zu den neuen Lebensformen gehören auch solche, in denen sich Gefühle und eine Drangliebe auf Tiere oder Gegenstände richten. Die neue Tierliebe, die Kultursodomie oder Neozoophilie genannt werden könnte, ist für Millionen Menschen inzwischen an die Stelle einer zwischenmenschlichen Beziehung getreten. Diese Kultursodomiten lieben ihr Tier wie einen Menschen, sprechen mit ihm, herzen und küssen es, gehen mit ihm zum Friseur und Psychotherapeuten und würden es heiraten, wenn das möglich wäre. Als ich einmal öffentlich von einer „sodomitischen Lebenspartnerschaft“ sprach, standen unsere Telefone nicht mehr still, weil die Tierliebenden wissen wollten, wann das Gesetz in Kraft tritt.
Ende eines Zeitalters
Die Drangliebe, die sich auf Gegenstände richtet – Objektophilie oder Objektsexualität – fällt viel weniger aus dem gesellschaftlichen Rahmen, als angenommen wird. Wer bedenkt, wie viele Menschen tote Gegenstände wie ihr Auto oder ihre Handtasche pflegen, bis hin zu Zeichen der altsexuellen Erregtheit – Glanzauge, Sex Flush und Tremor – der wird kaum noch bereit sein, Objektophile, die sich in ein Musikinstrument, ein Schiff oder eine Maschine verliebt haben, geisteskrank zu nennen.
Einer der stärksten Trends jedoch ist der zur Asexualität. Die Asexuellen haben sich von der Sexualität ganz abgewandt und leben so das Prinzip der Entregelung vielleicht am konsequentesten aus. Sie beweisen, dass es heute sogar möglich ist, offen und akzeptiert ohne sexuelle Lust und ohne sexuelle Beziehungen zu leben. Sie machen jungen Leuten Mut, denen der sexuelle Zirkus ohnehin unangenehm ist. Sie ermutigen aber auch ältere Menschen, die an einer Liebesbeziehung festhalten wollen, obgleich sich das Sexuelle längst verflüchtigt hat. Für einen Sexualforscher sind die im Netz organisierten Asexuellen insofern der Clou, als sie uns daran denken lassen, dass das sexuelle Zeitalter, das vor etwa 200 Jahren begann, auch wieder verschwinden kann.
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