Es gibt Sachbücher, die nur als Bilderbücher Bestand haben. Der andere Blick des Kunstwissenschaftlers und Times-Kolumnisten Edward Lucie-Smith und der Künstlerin Judy Chicago ist eines davon. Hochglanz mit vielen farbigen Abbildungen von Gemälden und Kunstwerken quer durch alle Epochen. Ein Buch zum Anschauen. Aber zum Lesen?
Angetreten ist der bekannte englische Kunstpublizist mit dem Anspruch, die passive Rolle, die Frauen in der Kunst vorwiegend als Modell oder Muse zukommt, zu revidieren. Weil Kunst, die sich auf dem Markt und in den Museen durchgesetzt hat, zum großen Teil von Männern gemacht wird, spiegelt sie ein Frauenbild, das der weiblichen Sicht auf die Welt nicht entspricht. Die Frau ist Objekt. Sie stimuliert das Begehren der Betrachter. Sie ist n
trachter. Sie ist nicht Herrin der Lage, selbst da nicht, wo sie als Handelnde dargestellt ist. So pauschal dies klingen mag, so wahr ist es. Seit sich die feministische Kunstkritik Gehör verschaffen konnte, ist das alles bekannt. Nur zaghaft sind seither Veränderungen sichtbar.Insofern ist es ein lobenswertes Unterfangen, dass sich ein Mann aufmacht, die Ausgrenzung der Frauen in der Kunst zu thematisieren sowie den Gegenentwürfen der weiblichen Künstlerinnen eine Plattform zu geben. Ist doch die Stimme des Mannes bis heute ungleich gewichtiger. Um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, er verwerte, was viele Kunstwissenschaftlerinnen vor ihm gesagt haben, hat sich Eduard Lucie-Smith als Co-Autorin Judy Chicago gewählt. Ihr kann sicher nicht nachgesagt werden, dass sie der Sache der Frau nicht dienen wolle. Mit ihrer Installation The Dinner Party hat sie - wenngleich nur symbolisch - 1979 den Frauen der Welt einen Platz am Tisch zurückgeben. Opulent war das symbolische Festmahl, das den 39 exemplarisch ausgewählten weiblichen Vorreiterinnen von der Urgöttin bis zu Virginia Woolf bereitet wurde. Umso unverständlicher, dass sie sich in dem Buch Der andere Blick auf die Einleitung und einen Schlusskommentar beschränkt, sowie eine Fülle persönlicher Anekdoten zum Besten gibt, die weder dem Buch noch ihr zu Ruhm gereichen.Im Kunstkontext kommt die Frau als Göttin, Heldin, Mutter, Verführerin oder Aktmodell vor. Diese Themen liegen dem Buch als Struktur zugrunde. Als Göttin ist die Frau in die Kunst gekommen, um ein paar tausend Jahre später als Beiwerk Gottes zu enden. Als Heldin wiederum ist sie nur eine Allegorie. Barbusig schwebt sie über den Schlachtfeldern. Als Mutter taugt sie allenfalls in Familienportraits, und die Folgen ihrer Begehrlichkeit hat sie sich, wie auf vielen Bildern von Künstlern zu sehen, selbst zuzuschreiben. Die Frau ist Aktmodell, aber nicht Künstlerin. Von den Akademien ist sie bis zum Anfang dieses Jahrhunderts nahezu gänzlich ausgeschlossen.In einer Fülle von Abbildungen bedeutender Werke von Männern wie beispielsweise Altdorfer, Tizian, Rubens, Picasso, Matisse belegt Eduard Lucie-Smith diese eindimensionale Vereinnahmung der Frau. Ihr stellt er eine nicht minder umfangreiche Fülle an Bildern von Künstlerinnen gegenüber. Frauen, die ihre malende Existenz in Selbstportraits einfordern wie Judith Leyster, Paula Becker-Modersohn, Käthe Kollwitz. Frauen, die ihren Körper in seiner ganzen Schmerzenbreite zum Bildinhalt gemacht haben wie Orlan, Hannah Wilke, Nancy Fried. Frauen, die die alte Fruchtbarkeitssymbolik wieder zur Diskussion bringen wie Louise Bourgeois oder Frida Kahlo. Die Themenvielfalt von Künstlerinnen geht jedoch weit über die klassischen Bildinhalte hinaus: Identität, Ausgrenzung, sexuelle Gewalt, weibliches Begehren, Schmerz, eigene Schönheits- und Lebensentwürfe gehören dazu. Das Buch liefert auch dafür viele Beispiele und Abbildungen.Selten gelingt es dem Autor jedoch, die männliche Wahrnehmung an der weiblichen zu spiegeln und dadurch die tendenziöse Absicht vieler Frauendarstellungen zu entlarven. Jeder diskursive Ansatz geht in der Fülle des Materials unter. Hinzu kommt eine übersteigerte Interpretationssucht des Autors. Er kommentiert sogar immer wieder Szenarien, die gar nicht mehr auf den Werken abgebildet sind. Überspitze Kostprobe: Auf dem Bild der argentinischen Malerin Puyrredon (1823-1870) ist eine Frau in einer Badewanne zu sehen. Sonst nichts. Lucie-Smith jedoch sieht mehr: "Sie sitzt in der Badewanne und dreht ihren Kopf, um einen wahrscheinlich männlichen Besucher zu begrüßen, der in diesem Moment eintritt. Die Frau wirkt nicht überrascht und die Situation bereitet ihr sichtlich kein Unbehagen." Woher weiß er das alles? Vor allem das mit dem Besucher? Auch seine Haltung gegenüber lesbischen Künstlerinnen entlarvt ihn als Mann mit tradierten Ansichten. Lesbierinnen sind ihm Rivalen, wenn es um das weibliche Objekt, Verbündete jedoch, wenn es um den männlichen Blick darauf geht. So werden sie nebenbei zudem zu Verräterinnen am eigenen Geschlecht. Vor allem Romaine Brooks muss als Sündenbock herhalten.Trotzdem: Das Buch taugt als Quelle für all diejenigen, die auf Themensuche für Dissertationen sind. Der reich bebilderte Band und die Kenntnisse der Autoren haben hohen Gebrauchswert. Als Bilderbuch eines "anderen Blicks" ist es der feministischen Argumentation nicht abträglich, selbst wenn es schielend daher kommt.Judy Chicago, Edward Lucie Smith: Der andere Blick. Die Frau als Modell und Malerin. Knesebeck-Verlag, München 2000, 192 S., 224, meist farb. Abb., 78,- DM