Übereinander geschleudert, sich auf den Fußspitzen gedreht, eine grazile Armbewegung, obwohl die Körperachse nicht im Lot ist, den Kopf in den Nacken gelegt und dennoch im Sprung, verharrend und trotzdem sich drehend. Beim jährlich stattfindenden Internationale Tanzfest »Tanz im August« in Berlin wurde dem menschlichen Körper vierzehn Tage lang ein Marathon der sinnlich angehauchten Extremerfahrung abverlangt.
Renommierte Namen schmückten das Festival-Programm: Die Merce Cunningham Dance Company aus New York war da, Rosas aus Brüssel, auch der kanadische Choreograf Édouard Lock mit seiner Gruppe La La La Human Steps. Aber andere waren auch da und die vergleichende Verausgabung des Körpers ersetzt heute ursprüngliche rituelle Zusamm
lle Zusammenhänge des Tanzes. Der Körper wird ausgestellt. Das Höhere, dem er sich dabei darbietet, ist nicht Gunst, sondern Kunst.Wie der Tanz lebt auch Musik vom Augenblick. Ihr Ursprung ist nicht weniger der mystischen Verehrung geschuldet. Dennoch kommt der Musik beim Tanz in der Regel nur die Assistentenrolle zu. Bei dem diesjährigen Festival jedoch wurde deutlich, dass die Attribute der Choreografie - Musik, Requisten, Sprache, Medien - aus ihrem Schattendasein treten, um neue und erweiterte Bewegungen erst möglich zu machen.Der aus London kommende Michael Clark, der sowohl im Underground als auch an den großen Ballettbühnen zu Hause ist, hat in seinem Stück Current/SEE auf fast grausame Weise vorgemacht, welche Macht die Musik auf die Bewegung ausüben kann. Außer den Tänzern sind auch Schlagzeuger und die Bass gitarrenformation Big Bottom auf der Bühne. In Überlautstärke spielen sie eine ungeschlachte Musik, die wie Hämmerschläge auf alle im Saal einhaut. Die Körper werden unter der Wucht dieses rhythmischen Krachs träge und schwer. Entsprechend gelingt es den Tänzern kaum mehr, ihre Füße vom Boden zu heben, um Sprünge zu vollführen. Die Leichtigkeit des Tanzes wird zerstört.Anders der 80jährige Merce Cunningham. Er hat schon in den vierziger Jahren der Musik eine vollkommen eigenständige Rolle in seinen Choreografien eingeräumt. Meist nur auf die Länge der Stücke einigte er sich mit seinem Partner John Cage. Oft erst am Tag vor der Premiere wurden Musik und Tanz zusammengeführt. Später experimentierte Cunningham mit Zufallsprinzipien und heute auch mit computergesteuerten Programmen, um neue - zuweilen »unnatürliche« - Bewegungen zu finden. Bei dem 1993 erstellten Stück mit dem kryptischen Titel CRWDSPCR wird deutlich erkennbar, dass die Animationstechnologie vor sechs Jahren noch nicht so ausgereift war. Die Bewegungen lassen an tanzende Schaufensterpuppen denken. Gebrochen, im falschen Winkel, manchmal ungelenk und dennoch in der größten Geschmeidigkeit aufgehend. Die Musik dazu erinnert an Krach, der entsteht, wenn man an einer Autobahn steht und sich die Ohren abwechselnd und schnell auf und zu hält. Bei seinem jüngsten Stück Biped tanzen nicht nur lebende Körper sondern auch computeranimierte Strichmännchen, die auf eine riesige Leinwand projiziert werden. Die Vielfalt der eingesetzten Mittel zwingt zu keinem Höhepunkt mehr. Es ist ein Stück, für das das Partizip Präsens gilt. Im Entstehungsprozess begriffen: werdend und vergehend.Sicher hat Anne Teresa De Keersmaeker mit ihrer in Brüssel ansässigen Gruppe Rosas von Cunninghams Umgang mit der Musik gelernt. Sie nutzt das streng rhythmisch komponierte Stück Drumming des Minimalisten Steve Reich als scheinbar klar zäsierten Gegenpol zu ihrer wilden, schnellen Choreografie. Ähnliches hat auch Édouard Lock in Salt im Sinn. Die Tänzer und Tänzerinnen seiner Formation La La La Human Steps leisten Schwerstarbeit, will er doch deutlich machen, dass es die Kontur eines Körpers gar nicht geben kann, da sie sich durch Bewegungen immer im Raum auflöst. Dreht jemand seine Hand schnell genug, ist der Kreis zu sehen, nicht die Hand. Um eine maximal vom Körper zu erzeugende Geschwindigkeit bei Drehungen herzustellen, nimmt Lock den Spitzentanz wieder in sein Bewegungsvokabular auf. An der hervorragenden und live gespielten Musik von David Lang und Kevin Shields orientiert sich die Choreografie nie. Dennoch gibt es auf der strukturellen Ebene ein Zusammenspiel. In den virtuosesten Augenblicken nämlich bricht die Musik ab, nur um wieder von vorn zu beginnen. Trotz der Hochgeschwindigkeitsekstase selbst extrem gebrochen, wird der Tanz zur Nahtstelle zwischen den musikalischen Verwerfungen. Letztlich aber will Lock wie auch Saburo Teshigawara aus Tokyo in seinem Stück Absolute Zero zuviel. Ihr Mix aus gebrochener oder dröhnender Musik, Film und Beschleunigungs- oder Überflutungsexzessen schafft ein Nebeneinander an Eindrücken, das zeitweilig mit Verweigerung, ja sogar Langeweile quittiert wird.Wie vielfältig die Rolle ist, die die Musik beim Tanz einnehmen kann, zeigen andere Produktionen. Das von der Kritik verrissene, vom Publikum begeistert aufgenommene Stück Aria Spinta der in Prag ansässigen Choreografen Lenka Flory und Simone Sandroni nimmt die »falsche Musik« oder die zum falschen Zeitpunkt zu hörende Musik als Impuls für den Tanz. In dem an die große tschechische Tradition des Kasperletheaters erinnernde Stück läuft alles schief. Am Schluß fallen sogar die Kulissen zusammen. Sobald jedoch irgendwo ein Akkord erklingt, beginnt jemand zu tanzen. Tanz ist so Verzweiflung, Lebensfreude, Unterhaltung und Überwindung des Unvermeidlichen in einem.Eine ganz andere Funktion hat die Musik in dem Tanztheaterstück Dialogue with Charlotte von Raimund Hoghe. Der bucklige Tänzer und Choreograf, der in den 80er Jahren Dramaturg bei Pina Bausch war, durchlebt eine vergebliche Leidenschaft zur großgewachsenen schwedischen Tänzerin Charlotte Engelkes. Auf einem feinsinnig gewobenen Teppich aus Schlagern umkreisen diese zwei ungleichen Personen ihre Annäherung und ihren Abschied. Dass sie tanzen, was die trivialen Liedtexte hergeben, fällt nicht sofort auf. »I am always chasing rainbows« dröhnt es über die Lautsprecher. Hoghe kämmt der auf dem Boden liegenden Charlotte die langen Haare in eine Kreisform. »Why did you go, I love you so« ist zu hören, und Hoghe wischt die Spuren seiner in Steno auf den Boden geschriebenen Liebeserklärung weg. Bei »Und das Lied, das einst erklungen, das heißt nur noch lalala« stehen sie im Raum und bewegen ihre ausgebreiteten Arme als wären sie Segelflugzeuge.Musik ohne Tanz? - Kein Problem. Und Tanz ohne Musik? Das durchaus klischeehaft wirkende Stück von Rui Horta Zeitraum - Thespaceoftime ist am dichtesten, als die Musik abbricht. In äußerster Konzentration und nicht unterstützt von sphärisch und hallverzerrten Klängen, sind die sechs Tänzer und Tänzerinnen nur noch auf sich gestellt. Kein auditives Gerüst stützt ihr synchrones Fallen und Wieder-Aufstehen, ihre angedeuteten Drehungen und nicht vollzogenen Wendungen ins Nichts. Vera Montero wiederum setzt in ihren Stücken an Stelle von Musik gesprochenen Endlostext ein. Aber auch Kostüme und Requisiten, die die Bewegung behindern, um so neue Körperdynamiken zu erzeugen. In O Rumo do Fumo umwickelt ein Tänzer sein Gesicht mit Tesafilm und bringt es in eine verzerrte, aber eingefrorene Form. Auch verklebt er sein angewinkeltes Bein und versucht sich danach in klassischen Tanzposen, die ihm nicht gelingen.Tanz ist eine Offenbarung, eine Darbietung im ursprünglichen Sinne des Wortes. Die sakrale Bedeutung liegt nahe. Bei einem Tanzfestival am Ende des zweiten Jahrtausends hat sich der rituelle Kontext allerdings verschoben. Keine höhere Macht - auch nicht die verschlingende wie in Appetite von Meg Stuart - wird mehr durch den Tanz besänftigt, wohl aber die Macht der Kritiker. Keine Verbindung mit Gott wird mehr gesucht, wohl aber der Applaus des Publikums. Offenbar aber muss der Moderne Tanz - um modern zu bleiben - das Bewegungsvokabular ständig erweitern. Derzeit scheinen körperliche Härte, Entsagung und Gewaltfantasien eine wichtige Quelle für die Ideen, die in den Choreografien umgesetzt werden sollen. Die Bewegungen, die mit einem Körper zu leisten sind, sind jedoch letztlich durch den Muskel- und Nervenwiderstand auf eine grazile Weise immer geschmeidig. Die Auflösung dieser Weichheit gelingt den Choreografen, indem sie Musik, aber auch Computerstudien und Requisiten so einsetzen, dass die Grenze zum Schmerz überschritten wird: Bassschläge, die die Eingeweide des Körpers nach unten ziehen oder Tesafilm-Orgien sind nur zwei extreme Beispiele dafür.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.