Juri Brezan bin ich, unter anderem, zweimal auf Reisen begegnet. Einmal indirekt. Das war 1976, als Brezan auf das Erscheinen seiner sorbischen Romanlegende Krabat wartete und wir in einem Gespräch feststellten, gerade in der polnischen Tatra gewesen zu sein, den Miniaturalpen des Ostens. Eine ihrer ansehnlichsten Erhebungen ist der »Giewont« (1894 m). Die Aussicht ist berühmt. Ich war nicht auf den Gipfel gekommen. Das letzte Stück geht man an Ketten und Klammern. Ich fragte Brezan, ob er oben gewesen sei und etwas, das ich einen Autor so nicht mehr fragen würde. Wie denn der Krabat geworden sei? Brezan antwortete sibyllinisch. Es sei wie mit dem »Giewont«. Man bleibe immer ein Stück unter dem Gipfel. Recht hatte er. Doch wo, so ließe sich bei seiner jetzt erschienenen Autobiographie fragen, laufen denn nun die Grenzlinien zum Roman?
Brezan ist ein Mann mit einer »DDR-Biographie«. 1916 in Räckelwitz bei Kamenz geboren. Sohn eines sorbischen Steinbrucharbeiters. In der Nazizeit inhaftiert. Soldat. Nach dem Krieg Jugendfunktionär in Bautzen. Vizepräsident des Schriftstellerverbandes der DDR. Akademiemitglied. Nationalpreis 1951, 1964, 1976. Ein Dutzend wichtiger Bücher in deutscher und sorbischer Sprache. Solche Lebensgeschichten und ihr ostdeutscher Hintergrund werden mittlerweile nach einem stabilen polemischen Definitionsschema abgehandelt. Abweichungen und Abweichler kommen in der zivilen Variante nicht vor. In der robusten werden sie in Grund und Boden denunziert. Als Schorlemmer vor einiger Zeit auf seinen eigenen Erfahrungen mit der DDR bestand und äußerte: »Wir müssen unsere Geschichte selber schreiben«, rufmordete ihn ein Hamburger Magazin gleich mal ein bißchen und konterte: »War sie nicht doch eher eine verkrümmende Diktatur, die Opfer am Fließband produzierte und nur den schonungslosen Blick zurück verdient?« Was aus seinem »Schreiberleben« soll einer mit der fürchterlichen Systemverstrickung von drei Nationalpreisen der Öffentlichkeit da preisgeben? Ein alter Mann dazu. Und wer kann Lust haben, sich im Klima pauschaler Verdammungen in eine Debatte über Details einzulassen?
Brezan ist mit den direkten Angriffen auf seine Person offensichtlich besser fertig geworden, als damit, wie Schreiberleben in der DDR in ein allgemeines Raster gepresst werden. Vehement ist hier in einem Abschnitt auf einmal von den unheroischen Seiten der Wendemonate die Rede, den persönlichen Abrechnungsverlangen, der Instrumentalisierung der Kirche, dem Brief eines Pfarrers, Brezan solle tätige Reue bezeugen, dann werde Verzeihung nicht ewig auf sich warten lassen, der öffentlichen Denunziation als »Kumpan« Honeckers, dem einmaligen Vorgang in der sorbischen Kulturgeschichte, diesen Autor im Jahreskalender der Sorben nicht mehr vorkommen zu lassen.
Doch sonst merkt man diesen Notizen den starken Druck an, der auf ihnen lastete, und sie zu Harmlosigkeiten, Anekdoten und kleinem Klatsch wegdrückt, in der sich beide Seiten nichts nehmen, wenn Brezan von den Schriftstellerverbandskollegen erzählt, die sich bei einem europäischen Autorentreffen in Köln von ihren Spesen Schweizer »Offiziersmesser« kaufen, Brêtan zu gleichem animieren wollen, und er anmerkt: »Nie war ich mehr fremd in meinem Verband.« War da nicht mehr?
Das Problem der Notizen ist nicht zuerst, woran der Schreiber beteiligt und was seine Überzeugungen waren, als das Maß, in das er sie kleinblendet. Es war ja beispielsweise keine Straftat, sondern eine Ansichtssache, wenn Brezan etwa auf dem DDR-Schriftstellerkongreß vom Mai 1978 nicht mit Hermlins Bekenntnis als eines »spätbürgerlichen Schriftstellers« übereinstimmte, »weil ich ihn für einen Kommunisten halte, und beides zusammen geht nicht«. Und Brezan auch Hermlins Bild vom Baum der deutschen Kultur für einen Irrtum hielt, »dessen Krone sich über vier verschiedene Staaten erstreckt«, weil diese Staaten, wie Brezan meinte, »sehr verschiedener Ordnung der Dinge der Welt« sind. Aber irritierend ist es dann doch, wenn als Differenz mit Hermlin bloß ein Autorenressentiment übrig geblieben ist. In irgendeiner Jury hat Hermlin einmal eine Erzählung Brezans abgelehnt und den Autor um das fast sichere Preisgeld gebracht. Jahrzehnte später ulkt Brezan gegenüber dem Juror, daß er ihm 5.000 Mark schulde. Brezan ist ein vorsichtiger, wägender Autor.
Meine andere touristische Begegnung mit ihm war direkt. Im Sommer 1979 sah ich im Schloßpark von Versailles einen Mann vor mir, dessen behutsame Bewegungen mir bekannt schienen. Er war es. Wir sahen uns. Er stutzte. Welch ungewöhnlicher Zufall. Welch ungewöhnliche DDR-Geschichten, hier in diesem Park sein zu können. Sie fehlen. Der Erzähler Brezan geht mit seinem Schreiberleben für mein Gefühl etwas knapp um. Aber vielleicht ist es keine gute Zeit für Memoiren.
Juri Brezan, Ohne Paß und Zoll. Aus meinem Schreiber leben. Gustav Kiepenheuer Verlag, Leipzig 1999, 238 S., 29,90 DM
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