Schluss mit dem Sesseltanz!

Vision Auch wenn das Grundeinkommen vorerst gescheitert ist, geht die Debatte weiter. Letzlich geht es um die Frage eines neuen Gesellschaftsvertrags, der dringend nötig wäre
Ausgabe 22/2016
Ob aus Fortschritt mehr Freizeit entsteht, ist eine Frage der Verteilung
Ob aus Fortschritt mehr Freizeit entsteht, ist eine Frage der Verteilung

Illustration: der Freitag

Das Volksbegehren für die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens in der Schweiz ist Anfang Juni gescheitert. Und das nicht gerade knapp. 76,9 Prozent sprachen sich dagegen aus – aber immerhin 23,1 Prozent auch dafür. Die Abstimmung könnte deshalb trotzdem europaweit der Diskussion um eine neue Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung weiteren Auftrieb geben.

In der Schweiz nennt man das Kinderspiel Reise nach Jerusalem „Sesseltanz“. Und wir leben im Zeitalter des Sesseltanzes um die Arbeit. Der Kampf um einen guten Startplatz beginnt im Kindergarten. Ohne Frühenglisch bleibt man da schon mal in den Startblöcken hängen. Ständige Weiterbildung und geografische Flexibilität sind unerlässlich. Man muss bereit sein, Familie und Nachbarschaft hinter sich zu lassen, doch dadurch wird der Job erst recht zur wichtigsten Eintrittskarte in die Gesellschaft. Neue Jobs entstehen dabei vor allem in der ausufernden Arbeitsmarktbürokratie. Die heutige Generation wird dereinst mehr Zeit mit Weiterbildung, Bewerbung und Arbeitsweg verbracht haben als mit bezahlter Arbeit.

Das Zeitalter des Sesseltanzes ist auch das der doppelten Dividende: Die Unternehmen können nicht nur ihre Produkte verkaufen, sondern auch die Jobs. Sie schließen mit den Staaten einen Deal: „Ich produziere bei euch, dafür stockt ihr meine miesen Löhne bis zum Existenzminimum auf.“ Die Folge ist eine gewaltige Umverteilung. In Deutschland sind die Markteinkommen (Löhne, Mieten, Kapitaleinkommen) der ärmeren Hälfte der Bevölkerung zwischen 1993 und 2005 um nicht weniger als 23 Prozent geschrumpft. Und das, obwohl die Produktivität im selben Zeitraum um 24 Prozent gestiegen ist. Der Sozialstaat konnte den Rückgang der verfügbaren Einkommen auf drei Prozent beschränken. Er wurde durch den Kraftakt aber überfordert. In der Folge wurden Leistungen abgebaut und an härtere Bedingungen geknüpft. Wer Arbeitslosengeld II bezieht, muss nun jede nur halbwegs zumutbare Arbeit annehmen.

Und die Musik spielt immer schneller: Das Rentenalter wird erhöht. Die Sharing Economy von Google, Uber und Airbnb sorgt dafür, dass Autos und Immobilien „besser genutzt“ werden und dass Arbeit noch billiger abgerufen werden kann. Also noch mehr Unsicherheit, noch weniger Arbeit für noch mehr Bewerber. Immer mehr Menschen kommen daher zur Überzeugung, dass wir einen neuen Gesellschaftsvertrag brauchen. Der globale Sesseltanz muss gestoppt werden. Die Welt braucht einen New Deal – eine neue Aufteilung einerseits zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit, andererseits zwischen globaler und lokaler Produktion.

Ein bedingungsloses Grundeinkommen könnte ein wichtiger Baustein dieses neuen Sozialvertrages sein. Wenn Staatsgeld nicht mehr mit dem Zwang zur Aufnahme einer Arbeit verknüpft wird, wirkt es wie eine individuelle Streikkasse. Aus einem Knebel wird ein Hebel. Das verändert die Machtverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt. Im Idealfall hört der Sesseltanz auf. Produktive Tätigkeiten finden vermehrt außerhalb der Geldwirtschaft statt. Arbeitslosigkeit wird durch aktive Muße ersetzt. Eine solche Entwicklung ist denkbar.

Wahrscheinlicher ist jedoch, dass ein Grundeinkommen den alten Deal zementiert und die bezahlte Arbeit noch billiger macht. „Die haben ja jetzt ein Grundeinkommen!“ Das allein reicht aber nicht, um das Ungleichgewicht zwischen den 42 Stunden einer Vollzeitstelle und dem Durchschnittspensum von 28 Stunden pro Erwerbsperson in Deutschland zu überbrücken. Ohne eine Anpassung der offiziellen an die effektiven Arbeitszeiten wird es also kaum gehen.

Ein strukturelles Phänomen

Die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften haben dieses zentrale Thema während der vergangenen Jahrzehnte verschlafen. Sie leben immer noch in einer Welt, in der alle wirtschaftlichen Probleme konjunkturell bedingt sind. Arbeitslosigkeit ist schon immer vom nächsten Aufschwung weggefegt worden. Und das werde auch so bleiben. Wir müsten bloß – wie immer – mehr Staatsausgaben und höhere Löhne fordern.

Diese rituellen Forderungen bleiben richtig, aber sie genügen nicht mehr. Der Rückgang der Beschäftigung ist längst nicht mehr ein konjunkturelles, sondern ein strukturelles Phänomen. Er kommt schlicht daher, dass unser Konsum nicht mit dem Produktivitätsfortschritt mithalten kann – und aus ökologischen Gründen auch nicht mithalten soll. Ob aus dem Schrumpfen der Beschäftigung Arbeitslosigkeit oder Freizeit entsteht, ist aber eine Frage der Verteilung. Seit man in den 70er Jahren bei der 40-Stunden-Woche angekommen ist, hat sich da nicht mehr viel getan. Gemessen am Rückgang des Arbeitsvolumens wäre dabei in Deutschland heute eine 30- oder gar 25-Stunden-Woche angebracht.

Anstelle von kürzeren Arbeitszeiten haben die Industriestaaten ein anderes Instrument angewendet, um die bezahlte Arbeit dem sinkenden Bedarf anzupassen – periodische Erwerbsunterbrechung in Form von Arbeitslosigkeit. Der Nachteil dieser Lösung liegt darin, dass man die freie Zeit zu fast nichts anderem nützen kann und darf als zur intensiven Beteiligung am Sesseltanz. Zudem wird der Lohndruck verschärft.

Ein Grundeinkommen müsste daher Teil eines New Deal sein, einer neuen, intelligenteren Wirtschaftsordnung. Dazu gehören aber genauso kürzere Arbeitszeiten, Förderung der lokalen Produktion, lokale Währungen, ein Bürgerdienst und vieles mehr.

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