Würde, Chancen, Anerkennung

Gastbeitrag Die SPD-Bundestagsabgeordnete Wiebke Esdar will Hartz IV abschaffen. Aber was soll danach kommen?
Kommen jetzt bessere Zeiten?
Kommen jetzt bessere Zeiten?

Foto: Rolf Zöllner/Imago

Hartz IV gehört der Vergangenheit an. Diese Einsicht setzt sich zunehmend durch – auch in der SPD. Auf dem SPD-Debattencamp im November forderte die Vorsitzende Andrea Nahles, Hartz IV hinter sich zu lassen und eine neue Grundsicherung zu schaffen. Und SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil stellte fest: „Hartz IV ist passé – als Name und als System.“

Dr. Wiebke Esdar ist 34 Jahre alt, von Beruf Diplom-Psychologin und seit September 2017 direkt gewählte Bundestagsabgeordnete für den Wahlkreis Bielefeld-Gütersloh II. Des Weiteren ist sie Mitglied im Parteivorstand der SPD und im Lenkungskreis der Parlamentarischen Linken der SPD-Bundestagsfraktion

Seitdem wird diskutiert: Was kommt nach Hartz IV? Wie schaffen wir nicht nur ein modernes System sozialer Sicherung, sondern von welchem Menschen- und Gesellschaftsbild gehen wir dabei aus? Und welches Staatsverständnis liegt unserer Politik zugrunde? Es ist an der Zeit darzulegen, welche Anforderungen eine neue Arbeitsmarktreform erfüllen muss und welche Schritte dafür notwendig sind. Doch dafür muss die SPD ein neues Versprechen für die Sozialpolitik im 21. Jahrhundert abgeben, das lautet: Egal in welcher Lebensphase man sich befindet – dieser Staat lässt niemanden zurück, sondern er schafft für jede und jeden neue Lebensperspektiven. Denn fest steht auch: Das Rad einfach zurück zu drehen ist weder ratsam noch möglich. Die digitale Revolution und der Einsatz von Robotern in unserer Arbeitswelt stellen unsere Gesellschaft vor neue Herausforderungen, insbesondere bei der Qualifizierung. Zudem sind Lebensmodelle und –biografien der Menschen bunter und vielfältiger geworden und darauf muss der Staat mit individuellen Lösungen reagieren.

Der Staat muss helfen

Für eine neue Arbeitsmarktreform müssen drei Bedingungen im Mittelpunkt stehen: Erstens muss der Staat stets den Zusammenhalt unserer Gesellschaft und die Würde aller im Blick behalten. Zweitens muss er alle Bürgerinnen und Bürger lebensbegleitend unterstützen, damit sie ihre Chancen nutzen und selbstbestimmt nach ihrem persönlichen Glück streben können. Und drittens muss dieser Staat die Rechte all seiner Bürger nicht nur anerkennen, er muss auch Sorge dafür tragen, dass sie diskriminierungsfrei umgesetzt werden. Dazu muss er bürgerfreundlich sein, das heißt er muss allen helfen, ihre Ansprüche durchzusetzen.

Dabei bleibt die Arbeitsgesellschaft der Grundpfeiler unserer Politik: jede und jeder hat Anspruch auf eine anständig bezahlte Arbeit mit fairen Arbeitsbedingungen. Dafür kämpfen wir. Für diesen Anspruch muss der Staat die Voraussetzungen schaffen, indem er eine kluge Investitionspolitik verfolgt und Unternehmen durch gesetzliche Regelungen wie den Mindestlohn nicht aus der Pflicht lässt. Denn für uns gilt: Keine Arbeit zu haben, das gehört zu dem Schlimmsten, was Menschen im Leben treffen kann. Es verletzt das eigene Selbstbewusstsein und bedroht die eigene Lebensplanung. Und es gefährdet die gesellschaftliche Anerkennung und den Respekt vor sich selbst. Gerade wenn aber diese menschlichen Grundbedürfnisse unerfüllt bleiben, schwächt das schließlich auch das Vertrauen in unsere Demokratie. Es führt am Ende dazu, dass Menschen ihr Selbstwertgefühl zu steigern versuchen, indem sie andere soziale Gruppen abwerten und ausgrenzen. Deshalb muss unsere Gesellschaft anerkennen: Arbeitslosigkeit ist kein individuelles Problem, für das der Staat allein die Arbeitslosen verantwortlich machen darf.

Keine Sanktionen

Um die Würde des Einzelnen zu wahren, muss zum einen die Grundsicherung sanktionslos an Bedürftige ausgezahlt werden und zwar in einer Höhe, die zum Leben reicht. Dabei müssen die über zwei Millionen Kinder, die Hartz IV beziehen, einen Rechtsanspruch auf eine eigene Grundsicherung erhalten. Wer zusätzlich zu staatlichen Leistungen noch arbeitet, muss zum anderen mehr von seinem Lohn behalten dürfen. Um Arbeitslosengeld I künftig länger beziehen zu können, brauchen wir zudem ein Zwei-Stufen-Modell: einmal müssen Qualifizierungszeiten im Sinne des Vorschlags eines Arbeitslosengeldes Q angerechnet werden; zum anderen brauchen wir eine Transferleistung, die sich am bisherigen Nettolohn orientiert und das bisherige Arbeitsleben berücksichtigt. Damit müssten viele Betroffene nicht mehr fürchten, schon nach einem Jahr in die Grundsicherung zu fallen und könnten ihren Lebensstandard halten. Außerdem dürfen Sanktionen nur nach klar definierten, transparenten Regeln drohen. Auch wenn sie schon heute nur drei Prozent der Arbeitslosen in Deutschland betreffen, sind ihre Auswirkungen weit größer. Denn die Angst vor ihnen schädigt unser gesellschaftliches Klima: mit Hartz IV fühlen sich viele der betroffenen Bürgerinnen und Bürger vom Sozialstaat bedroht statt unterstützt. Und unter diesen Voraussetzungen rückt die eigentliche zentrale Frage in den Hintergrund: nämlich ob der angebotene Job oder die vorgeschlagene Bildungsmaßnahme wirklich weiterhelfen. Ein einzelnes Jobangebot abzulehnen kann heute teuer werden: statt 416 Euro pro Monat bekommt ein Arbeitsloser im Schnitt schon beim ersten Verstoß nur noch 307 Euro. Wer unter 25 Jahre alt ist sogar nur noch 289 Euro. Damit lässt der Staat gerade diejenigen im Stich, die erst ins Leben starten. Keine Altersgruppe ist derzeit so armutsgefährdet wie die 18- bis 24-Jährigen. Eine Folge: heute sind geschätzt 37.000 Jugendliche obdachlos. Das darf die SPD nicht hinnehmen.

Chancengleichheit garantieren

Um Chancen zu ermöglichen, müssen Bildung und Qualifizierung ins Zentrum rücken. Der Staat muss den Grundsatz der Chancengleichheit garantieren: dass jede und jeder nach den eigenen Fähigkeiten bestmöglich gefördert wird. Deshalb müssen wir die Bundesagentur für Arbeit zu einer Bundesagentur für Arbeit und Qualifizierung weiterentwickeln, um vor allem eins zu leisten: Sinnvolle undindividuell passende Bildungsangebote anbieten, mithilfe derer eine echte berufliche Neuorientierung möglich ist. Wir müssen die Unterschiede in der individuellen Lebenssituation berücksichtigen, die an einen Langzeitarbeitslosen andere Ansprüche stellt als an jemanden, der noch Arbeitslosengeld I bezieht. Darüber hinaus brauchen wir ergänzende Instrumente: Mit der Idee des sozialen Arbeitsmarkts lassen sich sinnstiftende, staatlich mitfinanzierte Jobs für Langzeitarbeitslose schaffen – nach Tarif bezahlt und ohne andere Arbeit zu verdrängen. Gleichzeitig müssen wir auch die hoch Qualifizierten stärker unterstützen: wer kurzfristig nur einen Job unterhalb seines Qualifikationsniveaus bekommt, der muss für die Suche nach einem besseren Job weiter Unterstützung bekommen. So können Betroffene schneller wieder in Arbeit kommen, ohne befürchten zu müssen, dauerhaft unterhalb ihrer Fähigkeiten tätig zu sein. Und schließlich brauchen wir auch den Rechtsanspruch auf ein Chancenkonto, um jeder und jedem zu ermöglichen, sich weiterzubilden, beruflich neu zu orientieren oder selbst ein Unternehmen zu gründen. Mit einer Höhe von 20.000 Euro sicherlich eine teure Leistung – doch genauso viel kostet es den Staat im Durchschnitt bereits heute, eine oder einen Arbeitslosen für ein einzelnes Jahr zu unterstützen.

Soziale Sicherheit und gesellschaftliche Teilhabe

Um eine Gesellschaft der Anerkennung und des Respekts zu schaffen, muss sich diese auch in unserem Sozialstaat widerspiegeln. Dafür ist eine unabhängige, zentrale Anlaufstelle für Bürgerinnen und Bürger nötig, die sie berät und unterstützt, wenn sie Sozialleistungen beantragen wollen. Dort eingesetzte Bürgerlotsinnen und -lotsen können in einem ersten Gespräch die Lebensbiografie und den Unterstützungsbedarf der Betroffenen analysieren; danach können sie an die jeweilige Behörde verweisen und notwendige Formulare aushändigen beziehungsweise helfen, diese auszufüllen. Weil Bürgerlotsinnen und -lotsen ihre Klientinnen und Klienten längerfristig begleiten, können sie abschließend prüfen, ob der Weg erfolgreich war oder ein anderer eingeschlagen werden muss. Auf diese Weise achtet der Sozialstaat die Ansprüche der Bürgerinnen und Bürger nicht nur, er unterstützt auch dabei, diese wahrnehmen zu können. So begegnet er allen Menschen auf Augenhöhe, schafft eine Vertrauensbasis und erarbeitet gemeinsam mit ihnen Strategien für eine perspektivische Lebensplanung. Es wäre das Gegenteil der Erfahrung von heute, sich entmündigt und fremdbestimmt zu fühlen.

Soziale Sicherheit und gesellschaftliche Teilhabe durch Arbeit: dafür hat sich die SPD immer eingesetzt. Der Schlüssel dafür war und ist ein starker Sozialstaat. Die SPD muss beweisen, dass dieses Prinzip auch für das 21. Jahrhundert gilt. Es ist an der Zeit.

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