"Ist es möglich, daß auch heute noch
ein Dichter von den literarisch Interessierten
unbemerkt bleibt? Unbemerkt trotz der
vielbeschriebenen Massenmedien, die doch
angeblich dafür sorgen, daß kein Wort
verloren geht, daß auch jedes noch so
kümmerliche Talent zu Gehör kommt?
Es ist möglich."
Lützel Jeman, 1966
Dreiunddreißig Jahre später können wir die vom blutjungen Herausgeber Lützel Jeman im Vorwort zur bahnbrechenden Arbeit Die Wahrheit über Arnold Hau gestellten Frage nicht mehr guten Gewissens positiv beantworten. Es ist unterdessen schier unmöglich. Dazu mag die Akademikerarbeitslosigkeit beigetragen haben, denn an jeder Bergung eines in den Untiefen des Vergessens ruhenden "Dichters" hängt eine Zulassungsarbeit, gar eine lebenslange Herausgeberschaft. Indes hat sich die alte Faustregel, "83,7 Prozent aller vergessenen Künstler sind zu Recht vergessen", immer aufs Neue bestätigt. Und eins sei angemerkt: Wenn sich in der Tat, wie nicht nur die Informationssender behaupten, alle 20 Minuten die Welt ändert, alle 56 Tage das Wissen der Menschheit verdoppelt, dann muss die menschliche Festplatte gelegentlich geputzt werden, sonst drohen gigantische Abstürze. Aber manchmal wird auch eine Perle geborgen. Und es ist sicher kein Zufall, dass sowohl die Entdeckung Arnold Haus (1966) als auch die von Hans Jürgen von der Wense (1999) nicht allein staubaufwirbelndem Nachlass-Studium geschuldet ist, sondern dass beide Herausgeber, Lützel Jeman und Dieter Heim, die Vergessenen selbst ein Stück ihres Weges begleiten durften.
"Es sage keiner, Hau (1900 - 1962) sei selber Schuld an seiner Unbekanntheit. Es stimmt, dass er seine Kräfte scheinbar verzettelte. Es stimmt, dass er stets mehr war als nur ein Dichter. Er leistete ebenso Bedeutendes als Zeichner, Denker, Städteplaner. Als Entdecker der Grottenmaus schlug er ein neues Kapitel der nacheinsteinischen Zoologie auf, als Mathematiker..., als Gestaltspsychologe ..." (Jeman).
Auch Wense (1894 - 1966) war ein großer Verzettler, einer, der noch einmal den Versuch wagte, alles zu wollen: Dichtung, Juristerei, Flugwesen, Musik, Leben und Mythen afrikanischer, asiatischer, möglichst ausgestorbener Völker ... (gleichwohl sich kaum aus dem spitzen Dreieck Berlin - Warnemünde - Nordhessen entfernend). Und entfaltete sich Hau gelegentlich als rechter Polemiker, so reüssierte Wense als begnadeter Zwischenrufer im Konzertsaal. Beide entwanderten in späteren Tagen der Unlösbarkeit der Menschheitsfrage wie der Enttäuschung im Zwischenmenschlichen in Wälder und Auen, wobei Hau auf Nimmerwiedersehen verschwand (bis heute ist sein Verbleiben ungeklärt), Wense aber neue Konvoluten von Landschaftsbeschreibungen und Vermessungen der nördlichen deutschen Mittelgebirge anlegte.
Gewiss, Hau kommt aus kleinen - zumindest bis er sich mit seinem Vater überwirft -, stabilen Verhältnissen. Er verliert nie ganz die Bodenhaftung. Vermag aber nie so recht Eingang zu finden in die Salons der geistigen Welt. Wense entstammt mittlerem Paradieradel, lernt bereits in jungen Jahren von Arnold Schönberg bis Clara Zetkin alles kennen, was seine überreizten Nerven ins Vibrato zwirbelt, erregt mit seiner ins Soldatische gebürsteten valentinesken Gestalt Aufsehen in den Salons und lässt die Herzen der Damen höher schlagen. Doch war der Vater schon 1902 tot neben die polierte Tuba gefallen. Auch hatte die nervlich labile Mutter nach Zusammenbrüchen für Jahre in eine Anstalt, der Junge aber zu Tanten und dann ins Heim verbracht werden müssen.
Beide leiden: "Der Einsame ist überall einsam", notiert Hau; Wenses Tagbuch der jungen Jahre (1904-1927) durchheult der Einsamkeitsschrei geradezu wölfisch: "Meine Leiden als Kind. Gehetzt, ins Dickicht getrieben wie ein Wild, gepeitscht, gestoßen, beschrien, meine Bilder in den Schmutz geworfen, meine Noten zerrissen ..." (Kindheitserinnerungen). Sein getriebener Rigorismus: "Jede Nacht im Café des Westens. Else Lasker. Verdorbene Phantasten. Das ist die Jugend, in der ich jung bin! Raus, raus! ... Niemals zurück in diese Cafés! Etwas ganz Neues will ich beginnen. Ich werde Jurist", macht ihn zum Eigenbrötler. Tatsächlich schreibt er sich ein bei der Juristischen Fakultät. Und studiert - 14 Tage lang.
So ist Wense in allem: heute vergötternd, morgen verachtend oder umgekehrt, hoch entflammt, tief depressiv. Dazu bedrängt ihn die Mutter nach ihrer Entlassung, und er notiert im August 1915 erschöpft: "Ich wohne nun mit Mutter zusammen. Sie ist glücklich, ich aber habe Angst. Ich möchte in den Tiergarten gehen und nie wiederkommen."
Hau lebt von einer kleinen Erbschaft vom Onkel aus Clausthal-Zellerfeld. Wense wird nie über ein eigenes Einkommen verfügen. Er lässt sich aushalten. Über das Geschlechtsleben Haus ist wenig bekannt. Wense lieben die Frauen. Aber Wense liebt die Burschen. Er hebt die Geliebten in alle Himmel, um sie in jeden Dreck zu schmieren, wenn die sich Frauen zuwenden. Dabei hat er bei allem keuchenden und brennenden Auswurf wohl keinem der Geliebten auch je nur die Wäsche befleckt. "Hedwig meint, mein ganzes Leben sei verdrängte Sexualität", so im Februar 1926, und einiges über Frauen, die da am Boden klebten wie Pflanzenzeug, wo die Liebe doch in den Sternen sei. Während Hau etwa zur selben Zeit der Verführung durch Marianne Lechner, Schwester seines Milchbruders Georg Lechner, widersteht, das Doppelgesicht des Eros erkennend, dem Ekel fliehend, der zur Lust sich gesellt.
Hau und Wense waren im besten revolutionären Alter, als Russland und Deutschland in der Folge des Ersten Weltkriegs im Fieber lagen. Nicht untypisch für die noch gänzlich im geschmäcklerischen Bürgertum verhafteten, ungeklärt darüber hinaus drängen wollenden Künstler jener Epoche scheint uns das Verhalten beider: Hau beteiligt sich 1922 an einem Wettbewerb des Kulturministeriums der UdSSR zur Unterstützung des Sieges des Sozialismus mit einem Trinklied auf die Oktoberrevolution, bekommt das Lied unkommentiert zurückgeschickt und "verzichtet während der nächsten Jahre auf politische Stellungnahmen" (Jeman). Wense lässt sich in einem Vorgriff auf die warholschen fünfzehn Minuten am Abend des 12. 11. 1918 irgendwo in Berlin in einen Soldatenrat wählen, um sofort wieder auszutreten. Am 13. Noch einmal Aufwallungswahnsinn: "Einer springt auf die Bühne. Ich komme aus dem Gefängnis. Ein Mensch! Ich tobte. Ich heulte. Sprang gleich zu ihm hin. Neun andere nach. Wir müssen zusammenbleiben. Er heißt Beerfelde. Entweder ist er wahnsinnig oder er ist Gott." Aber am 14. 11.: "Wir trafen uns um 6... Gräßliche Idealisten. Ich muß mich von ihnen trennen." Im Sommer 1919 dann unvermittelt den alten Verbalradikalismus des fünfzehner Jahres wieder aufnehmend: "Eine Anarchie muß kommen, eine Diktatur der Not, ein Aufstand aller jungen Herzen gegen das Alter, eine neue Rasse, blonder als wir alle und mit einer vom Himmel geraubten Empörung... Es wird ein Tag kommen. Blutjung. Blutrot." Hau scheint indes schon immer ein Ahnen davon angeweht zu haben, wie kurz der Weg von der von Wense geforderten "totalen Ethik" zum "totalen Krieg" ist. In seinen der Welt anempfohlenen, von jener aber ignorierten "Gesetzen" geht das 16. so: "Ihr sollt nicht Schweinereien in den Wald rufen, und wenn es herausschallt, in höhnischem Tonfall sagen: ´Hört euch an, wie der Wald schweinigelt!´"
Hau und Wense wenden sich nach den Enttäuschungen der revolutionären Jahre verstärkt der Musik zu. Hau gelingt der erwartete Durchbruch mit den Mangold-Liedern so wenig wie später Wense mit den Malt-Liedern oder den Cora-Gesängen. In den Salons erntet Wense vornehmlich Ablehnung. Als er Schönberg aufsucht, in der Hoffnung, Verständnis und Ermunterung zu finden, sieht er wartend sofort: "Klubsessel! Oh Gott, könnte ich nur wieder weggehn und keinen sehn. Ich nahm meine Mappe, da kam er schon herein. Das ist kein Komponist, niemals! Das ist eine Schreibmaschine!" Mal ist ihm Schönberg Gott, mal wischt er mit ihm den Boden. Natürlich härteste Zwischenrufschlachten in Konzerten mit unbotmäßigem Publikum. Treu bleibt er eigentlich nur seinem Bruckner, den er auf dem Flügel so zu geben pflegt, dass die Tastatur nachher rot ist vom Blut seiner Fingerkuppen. Wense entwickelt bereits am Anfang der zwanziger Jahre eine Idee von Musik, die erst in den Neunzigern ihre Blüten entfalten sollte: "möglichst viel Musik mit möglichst wenig Tönen". (Wense a.a.O.) Und er kann als ein Vorläufer der Einstürzenden Neubauten gelten. Wense bezog in seine Musik Töne, die auf Alltagswerkzeugen erzeugt wurden, ein. So schlug er mit verschiedenen Materialien und an verschiedenen Stellen ein Küchensieb an: "Das ungeheuerlichste enervierendste und doch satteste einsamste abgesprungste an Musik das mir alle 9 Sinfonien Beethovens völlig ersetzt ist wenn man in Abständen von 1/2 Minute mit einer lose pendelnden Messerspitze an ein Bleisieb (nicht Emaille) klopft ... Die Musik in der Musik will ich überwinden." (Wense a.a.O.) In Donaueschingen hatten ihn einige Kritiker in eine Reihe mit Hindemith, Schönberg, Krenek oder Scherchen gestellt, und an Radikalität darüber. Nichts ist geblieben. Finden wir nach langem Suchen in den Katakomben des Deutschen Musikarchivs zehn Minuten, die überliefert sind, so entbirgt sich dem heutigen Ohr ein schönbergianisches ins Gershwinhafte hineinblitzende Wetterleuchten, zu wenig, um ermessen zu können, ob da ein Genie oder ein Poseur am Werke war.
Hau wendet sich der Tierwelt zu. Wenig bekannt ist, dass der vielzitierte Vers "Die schärfsten Kritiker der Elche / waren früher selber welche" aus der Hauschen Versschmiede stammt. Wense beginnt Zeitungen und teure Bücher zu zerschneiden und zeitgeistliche Collagen zu fertigen, die sich auch während der Herrschaft der Nationalsozialisten auffällig jeglicher Stellungnahmen zur Kriegs- oder Vernichtungspolitik enthalten.
Beide haben zu Lebzeiten kaum etwas veröffentlicht. Über Hau bleibt uns Jemans schmales, konzentriertes Bändchen. Wense - "Ich inventarisiere die Schöpfung" - hinterließ 315 nach Sachgebieten geordnete Mappen mit etwa 30.000 doppelseitig beschriebenen Blättern. Notizen, Ausrisse, Tagebucheintragungen, Kommentare, Briefe. So eindringlich er durch alle Zeiten "Mein Werk! Mein Werk!" krakelt hatte - nie wurde eins fertig. Der Herausgeber hat ausgesorgt.
Bei allen Gemeinsamkeiten der tragischen Künstler zeigen letzte übermittelte Worte noch einmal ihre Unterschiedlichkeit in der Zündtemperatur ihres Genius´: "Vielen erscheine ich rätselhaft. Aber die Lösung ist einfach: Ich bin simultan", sagt Wense und verabschiedet sich: "In der großen Synthese liegt mein Thema!" und wie eine freundschaftliche Antwort darauf die schlichte letzte Zeile, die Hau Jeman hinterließ: "Ich aber sage euch: Rasputin hat auch nur mit Wasser gekocht."
Jürgen von der Wense. Geschichte einer Jugend. Tagebücher und Briefe. Hrsg. Dieter Heim, 520 Seiten, Bildteil. Matthes Seitz, München 1999, 68,- DM
Die Wahrheit über Arnold Hau. Gernhardt, Bernstein, Waechter. Frankfurt am Main (Zweitausendeins) 1966, 183 S., Fotos, Zeichnungen Haus)
Jürgen von der Wense. Blumen blühen auf Befehl. Schnipsel und Collagen. München (Matthes Seitz)
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