Gesellschaftsspiele, grenzenlose

Berliner Abende Unglaublich! Am Morgen danach (21.02.) im verspielten Millionenblatt Bild Tini Gräfin Rothkirch (48), Chefin vom Dorint Hotel am Gendarmenmarkt: "Ich ...

Unglaublich! Am Morgen danach (21.02.) im verspielten Millionenblatt Bild Tini Gräfin Rothkirch (48), Chefin vom Dorint Hotel am Gendarmenmarkt: "Ich habe als Kind nie mit Puppen gespielt. Meine Mutter hat immer alles aufgebaut, ich bin dann verschwunden, und sie saß mit den Puppen alleine da." Unglaublich! Weil wir spielten ja grad am Abend zuvor im Schatten des Spielezentrums Axel-Springer-Hochhaus, also gegenüber in der brennBar schon so saugesellige Spiele, wo eine gräfliche Tiniisolation, oder ein Fluchtrebellieren vor der sodbrennenerzwingenden mütterlichen Puppenüppigkeit im Entferntesten nicht aufgekommen wäre. Denn wir spielten mit Holzklötzchen, Murmeln, Rohren zum Durchblasen, Kicker ohne Kicker, eine Sparvariante, miniaturisierten Rosinenbroten, Indoor-Curling hieß das, glaub ich, auch: New Age Kurling, und das vielleicht nervenzersetzendste Spiel des Abends, Via Maxima, spielt man praktisch nur mit Löchern. Die kann sich der Ärmste leisten, Tini.

Wenn die Gräfin am Abend über die Straße gekommen wäre, dann hätte es ob der aufschäumenden Stimmung die aufgehellte Föhnbetonwelle schon einmal kurzzeitig erschüttern können, wie es den Berichterstatter erschütterte, der hier zum Spieltrieb erwachsener Menschen ganz neue Erfahrungen machen musste. Er, der ausgewiesene Skeptiker gegenüber mitteleuropäischer Vermehrung und Feind eines falsch verstandenen Generationenvertrages (wir haben ihnen doch schon alles hingestellt, was wolln sie denn noch!? Jetzt sind sie dran!) erlebte ein Canossale. Günter beispielsweise, der sich schon vor Beginn der ersten Spielrunde ans Herz griff, ob der in Kürze an ihn herangetragenen Herausforderungen, zum Beispiel aus einer gewissen Entfernung magnetisierte Schusser aneinander zu kleben, Günter "Mensch ist das aufregend!" ist Vater zweier Kinder und ist mit Gattin Petra "ich schwitz am ganzen Körper" da, und man muss sich das so vorstellen und kriegt es kaum ins Hirn: Wenn die, ganz wie andere hier fiebernde Kinderbesitzer, gegen Abend mit ihren Lieben im Lego wühlen, dann fangen die doofen Kleinen so gegen 18 Uhr zu wimmern an und wollen ins Bett. Günter und Petra haben sofort Entzug und rennen zu den "jaccolympics", eine diplomierte Geschäftsidee, die gegenwärtig je zweimal im Monat in der brennBar und im Brauhaus Rixdorf zum Trend drängt. Noch einmalig im Reich. Aber schon gebucht von Firmenchefs, denen der ständige Ärger nach ihren Sauf- und Ficken-im-Aufzug-Betriebsfesten auf die Nüsse geht, und die irgendwie den Unterschied zwischen dem Homo erectus und dem Homo ludens ahnen. Beim Ludens ja immer ein Bücken und Verkrümmen und Knien und Aufstehen und Verdrehen und fanatisiertes Beugen, beim Erectus siehe Lift.

Aber des Unglaublichen war kein Ende. Denn während zur selbigen Zeit im Olympiastadion Alves mit seinem ersten Tor gegen Boavista Porto die Herta im UEFA-Cup-Spiel in trügerische Sicherheit wiegte, stand in der brennBar der blutjunge und kerngesunde Modellathlet "Sport-Pit" vor einer bewegungslosen Scheibe und blies einen Plastikpfeil auf dieselbe. Und als van Burik etwa 90 Minuten später die schlampig sumpfig herumkickende Herta vor einer Blamage bewahrte, kniete er reglos vor der PVC-blauen Bahn der Indoor-Curling Anlage und schob sein Rosinenbrot dicht am Ziel vorbei.

Er beispielhaft für die spielfreudigen und gesellschaftswilligen Singles, die von den unterspielten Eltern animiert worden waren, den Laden zu satter Spielstärke aufzumischen. Und Marion, die dem Berichterstatter bittere Niederlagen beibrachte, durchaus kein zuckender Spielhase bisher, musste auf die Frage, was sie denn heute täte, wenn sie nicht hier verschüttete Triebe entdeckte, stellvertretend antworten: "Wie immer, ich säß halt zuhaus."

Man sieht im Geist in die Singlesingsings, man mischt die brodelnden Familenwembleys dazu, die blubbernde und nässende Hefe, und ahnt, was da werden könnte. Mein Gott, was könnte da werden, Tini. Tränen in deinen Augen, Unbespielte!

Jetzt ein Schreien der Frauen wie von hochstürzenden Vögeln, ein Kreischen fast, und ein grundierendes Brummen, Stöhnen und Ächzen der Männchen, zwölf Hände flattern wie besessen im Spielgrund des Golden-Goal-Feldes, raffen die Kugeln zum Attackieren der unter ihnen schwimmenden oder sausenden roten, deren Berührung zu den widrigsten Sanktionen führt. Günter ist nahe am Herzkasper, ACE verbeißt seinen Daumen, Cordula schummelt, bestürzt vergräbt Hester das Haupt in den zitternden Händen, Petra verspritzt Schweiß und unerbittlich rinnt der Sand durch die Uhr in den Händen des Richters von "jacco".

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