Ziemlich genau in der Mitte zwischen dem Berliner Tierpark Friedrichsfelde ( Ost ) und dem Zoo ( West ) ist neben dem Märkischen Museum ein Graben in den Sand betoniert, den seit 1939 durchschnittlich drei Braunbären behausen. Berlins inflationär verbrauchtes Wappentier. Einmal im Jahr opfern vorwiegend ältere Berliner zum Gedenken an die Stadternennung im Jahre 1237 den Tieren Leckereien. Sonst wird der Graben eher verschwiegen. Weder im Falk-Plan noch in diversen Stadtführern wird man auf ihn stoßen. Es ist, als hätten die Ingenieure des Stadtimages ein schlechtes Gewissen.
Tatsächlich begann die Geschichte der Berliner Stadtbären mit der ganzen Palette möglicher Bärenmissverständnisse. So hieß es 1937 in einem Leserbrief zu
erbrief zur 700-Jahrfeier: ".. wir Berliner wollen was Lebendiges, wir die Einwohner der lebendigsten Stadt. Und so wollen wir, so hoffen wir, so bitten wir uns nachträglich ein Geburtstagsgeschenk aus, einen richtigen lebendigen, brummenden, tanzenden, schönen Petz. Ein Bär, ein Bärchen meinetwegen, dem wir Zucker geben können oder sonst etwas, der ans Gitter kommt und die großen Pfoten durch die Stäbe steckt und der eine lange rote Zunge hat und eben der Berliner Bär ist."Der Wunsch wurde wahr. 1939 fielen Urs, Vreni und Purzel in den Graben. Doch ein Bärchen bleibt nur als Teddy klein. Die halbe Zeit verschläft so ein Bär. Er ist ein arger Einzelgänger und meidet Menschen. Tanzen tut er nur auf der Herdplatte bei nicht ganz artgerechter Abrichtung. Anfüttern versaut ihn nachhaltig und macht ihn zur Gefahr von Mülleimer und Müllproduzent. Gitter verträgt er nicht. Und wer seine lange rote Zunge zu sehen bekommt, ist entschieden zu nahe am Pelz.1835 wurde im Bayerischen Deutschlands letzter freilebender Bär geschossen. 150 Jahre später erzielt Teddy bei Sotheby`s Fabelpreise. Gegenwärtig brummt in der Werbung ohne Bär schier gar nichts. Aber wie sieht es in Käfig und Gatter aus?An einem schönen Maiwochenende dieses Jahres trafen mitten in Deutschland, im thüringschen Worbis, Bärenkundige aus der Schweiz, aus Österreich und dem Gastland zusammen, um sich auszutauschen und dem gefangenen, geschändeten Bären seine Würde in Übereinkunft mit dem Grundgesetz zurückzugeben. Worbis, in der "Deutschen Toskana" gelegen, was nur den zu mokantem Lächeln treiben wird, der nicht erleben konnte, wie über die lichten Hügel der Landschaft die endlose giftgelbe Flut des Raps am Horizont in den gewittrigen Quecksilberhimmel beißt, Worbis war der ideale Ort für dieses Treffen. Hier gibt es seit dem 31. Mai 1997 den "Alternativen Bärenpark", in dem sich auf unterdessen vier Hektar bärenfreundlichem Freigehege zehn Braunbären und ein halbes Dutzend Wölfe herumtreiben. Bären wie Mischka, die 22 Jahre auf 16 Quadratmetern Beton beim Pionierhaus Artern (Thüringen) vegetierte, Bären wie Laura und Goliath, die ihr unbekannter Besitzer im Harz ausgesetzt hatte, Bären die aus Gräben gehoben, aus winzigen Gattern befreit worden waren. Maike, Tina und Mischa kamen zuletzt, am 5. März, die mussten seit Mitte der achtziger Jahre im Stadtpark Grimma auf 60 Quadratmetern den ständigen Stress der unnatürlichen Nähe erleiden. Dabei sind sie Einzelgänger, die Abstand brauchen, pro Paar ein Revier von ein bis anderthalb Hektar plus noch mal 500 Quadratmeter, wenn die Bärin Junge führt. Mindestens, sagt Professor Ewald Isenbügel aus Zürich, der erfahrenste Bär der Veranstaltung.Dr. Udo Gansloßer (Erlangen), der versachlichende und jeder Vermenschlichung des Braunbären abholde Moderator des Bärenforums ("nicht jede Unart, die wir nicht verstehen, ist gleich Persönlichkeit"), geht bei seiner Conférence unaufhörlich fünf Schritte vor, sich auf dem Absatz wendend zwei nach links, dann fünf Schritte zurück, zwei nach links drehend, dann fünf vor und so fort, obwohl ihm etwa das Dreifache an Raum zur Verfügung gestanden hätte. Das nennt man Stereotypie. Und wir können daran erkennen, wie groß die Studierstube Gansloßers ist, in der er auf und abschreitend den Bären neu denkt. Von den neuen Worbiser Weibchen, beispielsweise, rennt das eine mitten im schönsten Bärenwald immer noch die Ausmaße seines grausamen Grimmaer Gatters ab und sonst nichts. Das andere hat sich das einzige Stück Gitter gesucht, das es finden konnte, und vor dem hüpft es unaufhörlich auf und nieder. Das dritte aber sitzt traurig am See. Es hat jetzt zwar keine Schmerzen, aber auch keine Zähne mehr und zerdrückt Äpfel mit den Pratzen, um das Mus zu mümmeln. Hat es denn Sinn, Bären, die ein halbes Leben kümmerten, in so komfortablen Ruhestand zu entlassen? Kommen sie je zu sich selbst? Aber ja. Zwar gibt es immer wieder Stresssituationen, in denen alte Stereotypien durchbrechen. Aber ein Bär in Haltung wird alt, weit über Dreißig, alt genug, um sich noch einen angenehmen Lebensabend zu richten. Und "Enrichment" hilft. Es ist ein Zauberwort der Bärenfreunde: Futter so verstecken, dass den Bären seine legendäre Nase durchs Unterholz treibt, Spiele und Spaß, wozu in gewissem Sinne auch die Gemischthaltung zählt. Zwar ist in Leipzig ein Versuch, Gemeinschaft zwischen Löwen und Schakalen zu stiften, traurig für letztere ausgegangen, aber der Wolf tut dem Bären gut. Klaut ihm gelegentlich das Futter und wirft den trägen Bärenmotor durch kleine Bisse in die Waden immer wieder einmal an. In kurzer Zeit beginnen unter solchen Bedingungen Bären, die noch nie in ihrem Leben eine arttypische Winterruhe gehalten hatten, Höhlen zu graben, um sich zu verziehen.Rüdiger Schmiedel, ein Dynamiker um die Fünfzig, fühlte sich dem Tier schon immer näher als dem Menschen. Oder genauer, er kam mit ihm besser zurecht. Zu DDR-Zeiten sorgte er, von Beruf Zoo-Techniker im landwirtschaftlichen Bereich, dafür, dass dem Grenzhund gute Pflege und Ausbildung zuteil wurden. Dann wurde er Tierschützer. Zuerst randalierte er vor Zirkuszelten und forderte die Befreiung der dort schändlich gehaltenen Wildtiere, rief auf zum Besucherboykott. Frustriert von der geringen Resonanz seines Treibens, begann er den Marsch durch die Institutionen und wurde Funktionär im Deutschen Tierhilfswerk (DTHW), eine der großen Tierschutzorganisationen mit Sitz in Süddeutschland. Das DTHW hatte den Plan, eine Auffangstation für vergammelnde Bären zu gründen. In Worbis, auf dem Gelände eines verrotteten und fallierenden Tierparks aus DDR-Nachlass, wurde Schmiedel fündig. Es dauerte eine Zeit, bis Stadtobere und Bevölkerung einem solchen Projekt etwas abgewinnen konnten. Schmiedel gründete die "Aktion Bärenhilfswerk e.V.", lockte bewährte Mitarbeiter in die Provinz, das DTHW legte zwei Millionen hin, und langsam, nach rastloser Aufklärungsarbeit und ersten Schritten der Verwirklichung des alternativen Parks, begannen die Worbiser einzusehen, dass verlotterte Kleinzoos heute, bei gewachsenem Bewusstsein um die Lage von "Bruder Tier", keine Tourismusmagneten mehr sind. Und da Schmiedel und seine Mitarbeiter weniger auf die mitleidende Seele als auf die Bildbarkeit der menschlichen Einsicht setzen, zogen sie um den Bären- einen Bildungspark, in dem die Besucher lernen sollen, dass man die Lebensräume der Tiere schützen muss, wenn man sie selbst erleben und erhalten will. Dass man sie in den Gehegen der Zoos und Zirkusse nicht kennen lernen kann, ihrer Würde beraubt.Bei aller Eintracht in der Beurteilung der Bedürfnisse des gefangenen Bären, mischte sich ein Grummeln unter die Tagungsmelodie, das bald nicht mehr unter der Decke zu halten war: Wie halten wir es mit der Euthanasie? Die Krüppelbären von Worbis sind sterilisiert. Aber was ist mit den Wildbären in anderen Freianlagen? Im österreichischen Langenberg beispielsweise. Einerseits: Wie soll man von artgerechter Haltung sprechen können, wenn die Bärin sich nicht fortpflanzen kann? Wie will man da des Bären Verhalten beobachten und präsentieren? Andererseits kann man weder die Freigehege vollbären lassen, noch eine Bärchenzucht für die bekannten schänderischen Interessen zulassen: Wegwerf-Bären zum Kinderanreißen in allen möglichen Freizeiteinrichtungen, Bärchen, die substituiert werden, wenn sie nicht mehr kuschelig genug erscheinen. Also Euthanasie der überschüssigen Jungen zur Zeit ihrer natürlichen Vertreibung aus dem Mutterparadies? In freier Wildbahn überlebt eh die Hälfte der Jungen nicht! Oder gar auf den Speisezettel mit ihnen? Wir schieben doch auch den kartoffelkäferfarbenen Frischling auf den Spieß. "Mal offen gesagt", so die Europäische Bärenexpertin Lydia Kolter aus Köln. Da haben für gewöhnlich randalierende Naturschützer schwer zu schlucken. "Euthanasie kann Tierschutz sein!", ruft ihnen Herr Schmiedel mit der ganzen Kraft des Renegaten entgegen. Aber auch der alte Bär, wenn die Knochen nicht mehr wollen und er sich nur noch quält und vielleicht von daher so komisch schaut, dass die Leute sagen, der schaut doch noch so lieb, auch der sollte ... "Euthanasie ist Tierschutz!", so Schmiedel noch einmal, der vor wenigen Wochen Samson einschläfern musste, den Liebling der Massen, der Sponsorbär schlechthin. Kaputte Hüfte, Spätfolge jahrelangen Stereotypierens. Der artgerecht gehaltene Bär ist von Euthanasie umstellt. Da sind die Tierrechtsfreunde oder die Österreicher von "Vier Pfoten", die den Rumänen und Bulgaren die Bärchen von der Herdplatte holen, ganz still und mucken nicht.Urs und Vreni übrigens, die ersten Bären, die in Berlin in den Graben fielen, stammten aus dem Berner Bärengraben. Jette und Nante, die 1949 nach den Kriegsverwüstungen wieder einstiegen, auch. Dr. Bernd Schildger, deutscher Direktor des Tierparks Dählhölzli in Bern, ist für den dortigen Bärengraben, Relikt des 15. Jahrhunderts, zuständig. Der Berner und der Bär sind eisern verwachsen. In der Stadthierarchie, so Schildger, kam bis in unsere Zeit nach dem Stadtpräsidenten - so heißt dort der Oberbürgermeister - der Bärenpfleger vom Bärengraben. Dann der Rest der Stadtregierung und die Parlamentarier. Vom gesottenen beziehungsweise gebratenen überschüssigen Bären bekamen der Präsident und der Pfleger die Tatzen, der Rat das Filet und das gemeine Volk die Reste. 1985 wurde zu 15 Franken pro Kilo letztmals ein Bär öffentlich verspeist. Zu Ostern prozessieren Tausende von Bernern samt Stadtherren zum Bärengraben, um den Nachwuchs zu begrüßen - was in den letzten Jahren etwas unter dem Fehlen desselben litt. Während selbst Berliner Bärenfreunden des Forums die Existenz des einheimischen Grabens unbekannt ist, steht der Berner zum Bären. Nur nicht mehr blind. 60 Prozent sind heute der Meinung, dass der Graben keine Reklame für Bern ist, weil die Bären dort schlecht aufgehoben sind. Obwohl aus dem Grabengrund zwischenzeitlich der Beton gebrochen wurde, der Boden einen tatzenfreundlichen Belag bekam und der Bär auf Augenhöhe des Besuchers gehoben wurde - er bleibt ein bärenunwürdiger Graben. Nach langen Bemühungen steht jetzt eine Lösung bevor. Die Bären bekommen ein neues großzügiges Revier um den Graben herum, die Besucher werden durch den Graben geführt. "Moderne Bärenhaltung in Denkmälern", so Dr. Schildgers Beitrag zum 1. Bärenforum. Davon können Maxi, Tilo und Schnute am Märkischen Museum nur träumen.Der Tierschutz kommt ins Grundgesetz. Die "Leitlinien für Haltung, Ausbildung und Nutzung in Zirkusbetrieben oder ähnlichen Einrichtungen" des Künast-Ministeriums sind indes noch weit vom Ziel artgerechter Haltung entfernt. Zwar wird darin ein Verbot der zirzensischen Nutzung von Nashörnern, Menschenaffen, Wölfen, Delfinen, Pinguinen gefordert, aber der Bär hatte bisher eine zerstrittene Lobby. Keine Chance gegen die Zirkusprofis. 24 Quadratmeter Zirkuswagen empfiehlt die Leitlinie für ein bis zwei Braunbären. Da weint der Bär. Und auch sonst: Kommt ein Veterinär und sagt dem Familienzirkuschef: "So geht das nicht." Sagt der: "Nimm sie doch mit." Da wird der Veterinär blass. Denn er weiß nicht wie wohin damit. Tierschutzorganisationen bereiten gegenwärtig einen konzentrierten Angriff auf die Haltung von Wildtieren im Zirkus vor. Das wird eine lange Auseinandersetzung werden, und es wird sehr auf das Publikum ankommen. Jedenfalls wird der Alternative Bärenpark Worbis sein Gelände verdoppeln, damit aufzufangen ist, was aus den Käfigen kommt.
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