Wer hat Angst vorm fetten Buch?

Kinder und Literatur »LesArt« will Kindern Lust aufs Lesen machen. Nötiger hätten es die Lehrer

Erst müssen alle in die Händchen klatschen. Nein, erst müssen sich alle im Kreis aufstellen - dann klatschen. Einer nach dem andern, erst so rum, dann anders rum. Die winzigen Watze, sechs bis acht Jahre alt, sind extra aus Nikolassee, weit im Westen, herübergekommen, Erstklässlerinnen hauptsächlich, wenige Männchen, zur Mittagszeit, wo vor kurzem solche Semester noch die Heia hüteten, aus nicht gänzlich von der Hand zu weisenden Gründen. Und jetzt dürfen sie wahlweise die Nachbarn anklatschen, die dann ihrerseits zurück oder weiter klatschen. Dann dürfen sie wieder aufhören und sollen sich mit Hilfe der Tante Theaterpädagogin nach ihrem Alter aufstellen. Du bist der Erste, du der Zweite ... Dann müssen sich alle setzen und über Situationen nachdenken, wo jemand der erste, zweite, dritte... »Können wir jetzt mal vorlesen«, kräht ungehalten ein blondes Männchen. Nach 15 Minuten. Da hat es sich aber geschnitten. Denn die Tante hat ein Programm, wie sie die kleinen Kunden mitten im LesArt-Paradies so lange es geht vom Buche fern hält. Fast länger noch. Über verschiedene Sportarten - Erster, Zweiter, Dritter - kommen wir zum Stärksten: »Alle sind hier die Stärksten«, jodeln die Zuckerstückerln, die es langsam satt haben. Ich reise - oder sagt sie »reite« -jetzt schon ein Jahr, lispelt ein Engelchen voll himmlischer Nachsicht, »aber bei uns haben wir noch nie Erster- oder Zweiter- oder Dritter-sein gemacht.«

»Fünfter sein«, sagt unvermittelt die Tante und liest verstohlen von einem Zettelchen gleichnamiges Jandl-Gedicht aus der Wartezimmerhölle:

Der Autor hat selbst Experimente mit Jandl-Gedichten am lebenden Nachwuchs anderer durchgeführt. Viele bezaubern mit ihrem Rhythmus und skurrilen Sprachwitz die Kinderherzen augenblicklich, gerne werden Zugaben verlangt. Oft wird gefragt, was für ein Onkel so ein Kauz ist. Aber was wird den Nikolasseern erschlossen? Das Gedicht wurde schier versteckt, die lakonische Pointe verschlunzt. Zugaben null. Information null. Stattdessen wird nun Seite für Seite eines bildhübschen Bilderbuches, das die Fünf kindgerecht im Wartezimmer des Puppendoktors als Pinguin, Ente, Bär, Frosch und Pinocchio darstellt, an die Wand projiziert, das Rein, Raus, Tür auf, Tür zu durchexerziert, als wolle man gänzlich auf das künftige blutleere Zerlegen von Texten, statt auf ihren Genuss orientieren. Kaum sind derart ein paar Minuten vertan, müssen die Lieben schon wieder zeichnen, nämlich was der Doc hinter der Tür mit den Versehrten macht. Technisch eine unlösbare Aufgabe, was sofort zu einfallsreichen kleinen Streiks führt. Im Handumdrehen befinden wir uns in einer Motivationskrise ums Malen, statt im Liebeswerben um ein Bildergedichtbüchel. Das Verhältnis von Beschäftigung mit dem Gedicht zu dem hinführenden und abführenden Tand dürfte etwa 1:10 gewesen sein. Stellen wir uns einen Augenblick eine verzweifelte, allein erziehende Mutter ohne pädagogische Ausbildung vor, die ihren Liebling ans Buch bringen möchte: Die müsste ja ihren Arbeitsplatz aufkündigen, nur für Winnie the Pu! So geht es nicht!

Wie es gehen könnte, daran arbeitet LesArt seit gut sieben Jahren. In der neuen Berliner Mitte, ein paar Schritte vom Alexanderplatz oder vom Hackeschen Markt entfernt, in der Weinmeisterstraße, hat das Berliner Zentrum für Kinder- und Jugendliteratur e.V. sein Haus. Vier Stockwerke hoch voller Abenteuer- und Arbeitszimmer. Mit einer großen Präsenzbibliothek zur pädagogischen und wissenschaftlichen Arbeit und einer mählich sich vervollständigenden Sammlung von DDR-Kinder-und Jugendbüchern. Es war ein ziemlicher Kampf, bis das Schmuckstück dem Trägerverein gehörte. Und ganz ausgestanden ist er immer noch nicht. Noch fehlen ein paar Bürgen für das Darlehn, das zum Kauf aufzunehmen war, noch gibt es Auseinandersetzungen um die Kosten für die Fassadenrenovierung, die, vom Verein selbst vorgenommen, den Preis in die Höhe trieb, der jetzt von ihm bezahlt werden soll, nach den Vorstellungen der Oberfinanzdirektion.

Angefangen hat aber alles in der DDR. Da war in der Oranienburger Straße das DDR- Zentrum für Kinder- und Jugendliteratur angesiedelt, in das Ende der achtziger Jahre, vom Verlag Neues Leben kommend, Sabine Mähne leitend eintrat. Langsam machte man sich mit den Risiken und Nebenwirkungen der auflichternden Wende vertraut. Als die Jüdische Gemeinde ihre alten Besitzrechte anmeldete, zog das Unternehmen - erster Glücksfall - an den heutigen Standort. Jahre der branchenüblichen Selbstausbeutung folgten, Arbeitsbeschaffung entfaltete ihr unsicheres Wesen, bis - zweiter Glücksfall - dem Verein eine Million aus dem legendären SED-Vermögen zugeschanzt wurde. Jetzt konnten dreieinhalb Kräfte bezahlt, es konnte renoviert und projektiert werden. 1993 wurde LesArt aus der Taufe gehoben, ein Ort, ein Programm, um junge Leute fürs Lesen zu interessieren und ihre Lehrer davon abzuhalten, im Halbschatten ihrer Klassenräume und Vollschatten der Lehrpläne just das Gegenteil zu erreichen. LesArt gewann Profil, vernetzte sich national und international. Heute gibt es Unterstützung von Bezirk und Senat, die LesArt mit 560.000 DM den Jahresetat decken, ein alles in allem glückliches Ende.

Ein anderer Tag. Im Gärtchen stehen zwei Dutzend Halbwüchsige, um die 14, aus einem Gymnasium im Nachbarbezirk Friedrichshain. Nein, ihr zweifellos freundlicher Lehrer war noch nie hier. Nein, er muss sich erst »langsam in Richtung Mitte orientieren«. Einige Schüler lachen sehr, fragt man sie nach ihren Leseabenteuern. Einige werden rot und stottern Namen von Computerzeitschriften. Aber es gibt auch die Leser, und wie es der Teufel will, sind es mal wieder Kinder von Lesern, die ganze Bibliotheken um ihren Flokati winden. Und junge zarte Frauen, die junge zarte Pferde- oder Liebesromane einatmen.

Jetzt werden aber die Fenster sämtlicher Stockwerke aufgestoßen: Ein Seufzen und Rufen, ein waidwundes, ein hochseetaugliches, ein Blasen wie auf Kaumuscheln! Studenten der Hochschule der Künste erzählen dem Nachwuchs die schönsten Abenteuer aus Homers Odyssee. Auswendig, mit Ganzkörpereinsatz, jeder auf seine Weise, aber auch zusammen in hochantiken Liedern oder im Rhythmus der geschlagenen Ruder: Jetzt aber höchstlich verwundert die eben noch scherzenden Schüler, ob des Beginns, der an Werbung oder Theater gemahnte. Gleich rief man: peinlich! Oder: zu laut! Rad ab! war auch des öftern gehöret. Gleichwohl stieg man ins Mythenbett. Und wahrlich, 60 Minuten flogen dahin mit des Mannes Leid, und nur wenn Erzähler sich fremd exaltierten, oder die Körper zu innig verflochten, war noch ein Prusten in Friedrichhains Jugend, und wie von alters her dann, wenn das Schwert in die Scheide gesteckt, ein mächtiger Busen enthüllet, ein Lager bestiegen wurde. Und ach, die Schlechtesten waren es nicht, die angesichts solcher Exzesse die Fahrradhandschuhe stumm zerrupften!

Wie es weiterging? Allgemeine Begeisterung! 14jährige haben es geschafft, eine ganze Stunde den abwechslungsreichen Darbietungen wenig älterer Menschen zuzuschauen, ohne das Etablissement zu zerlegen. Den Rest des Tages verbrachte man füglich mit Anfertigen von Scherenschnitten, Falten und Bemalen von Hüten, verschicken von Trockenflaschenpost, Stellen von Szenen, Stampfen, Lärmen zur Odyssee. Die Fama, dass die dritte Zapp-Generation nur noch 2 Minuten 27 Sekunden konzentrationsfähig und an einem Thema zu halten sei, also die Verschleierung der traurigen Tatsache, dass es bei den Alten keinen austauschbaren Gedanken über 2´27´´ gibt, muss sich unglaublich festgefressen haben. Die Frage ist: Wer hat hier wirklich Angst vor dem fetten Buch, wer traut seiner Literaturkultur kaum noch bis aufs Scheißhaus?

Die Leiterin Frau Sabine Mähne ist, das muss man sagen, ein rechter Fels in der lauen Brandung des einschlägigen Kulturpessimismus. »Ich hab Vertrauen in die Kinder« sagt sie. Und meint, dass die sich schon holen werden, was sie brauchen. Auch wenn sie manchmal in der einen oder anderen Richtung übertreiben: »Das erledigt sich«. Lust machen aufs Lesen, darauf kommt es ihr an. Lust machen: Die Zauberformel nicht erst seit Uwe Wittstocks 95er Aufrüttelung Leselust, in der er den gängigen Alarmismus - keine Zeit in der neuesten Zeit - Verdrängungsleistung anderer Medien - zersetzender Leistungsgedanke - Konzentrationsverlust - Sieg des Supertrivialen - abwehrt und seinerseits die deutschen Schreiber auffordert, selbst Lust zum und beim Schreiben zu haben, damit auch der Leser was zum Lusteln hat. Und auch der alte Hartspitz Marcel Reich-Ranicki, MRR, hat ja jüngst im Spiegel wieder das Lustlesen verlangt, wenngleich sein vorgeschlagener Literaturkanon eher einem alten Schlafmittel gleicht. Mähne, Wittstock, MRR, sie alle werden glanzvoll bestätigt durch die Ergebnisse der neuesten Studie der Stiftung Lesen, Leseverhalten in Deutschland im neuen Jahrtausend, die besagen: Der Leser liest!

Dennoch gibt es einiges zu tun: Die Lese- und Vorlesefähigkeit vieler Lehrer rinnt gegen Null. Sagt Frau Mähne. Kaum sind sie in der Lage, ein spannendes Stückchen adäquat zu performen. Und Vorlesen ist der Einstieg ins Selbstlesen. Die quälende Folter des Lehrplanlesens ist ja in Wirklichkeit die Rettungsleine des literarisch unambitionierten und uninteressierten Lehrers. Jammern ohne Reue! Deswegen will LesArt an die Lehrer ran, dass sie die Angst vor der Lust verlieren. Deshalb macht LesArt viele Projekte mit Lustkünstlern aller Art. Deshalb vor den Schulhaustüren verirrungssichere »literarische Spaziergänge«, wo sie mit ihren Klassen den in Büchern gelegten Spuren folgen, so Textsorten und verrufene Orte und fremde Kieze auf einmal entdecken können. Und den Eltern ruft Frau Mähne zu: Wenn ihr euch schon selbst einer ganzen Welt beraubt, so schenkt sie wenigstens eueren Kindern. Bücher auf den Gabentisch!

Jetzt sind gleich Ferien. Da werden die Freunde vom e.V. wieder das Haus in Schuss bringen. Wie in jedem Sommer. Und dann, im August, geht´s in die Parks und unter die Büsche. In Verbindung mit den Bibliotheken der Bezirke wird man zu den Kindern kommen beim »Lesen im Park«. So soll es sein. Mit Bauchläden, Transparenten und dem Willen, das im Haus Gedachte mit der Welt zu konfrontieren.

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