Wer nicht hören will, muss fühlen

Ein bunter Strauss an Attentaten "Assassins" von Stephen Sondheim an der Neuköllner Oper

Wir erinnern uns: Der skrupelloseste Attentäter der Menschheitsgeschichte war Gott. Wenn sein Volk nicht spurte, seine Gesetze nicht achtete und ihm nicht angemessen Lobgesänge in die Ohrwascheln stiegen, wenn es statt auf ihn zu hören lieber exzessiv poppte oder sodomisierte, wenn es gar mit anderen Göttern flirtete und ihm vor Eifersucht die Adern schwollen, dann gab es flächendeckend was auf die Rübe, da wurde nicht lange gefackelt und die Bagage nicht nach Unschuldigen sortiert. Wenn er die Schleusen öffnete, wurde nach den lieben Kleinen so wenig gefragt, wie wenn er die Feinde seines Volkes fanatisch mit unvorstellbaren, unmenschlichen Nichts-wird-mehr-sein-wie-zuvor-Plagen überzog.
Wir erinnern uns: Dann war unser Gott tot. Und seitdem müssen wir gelegentlich selbst aufräumen, wenn alles zu viel wird hier unten. Und keiner auf uns hört, keiner auf uns sieht und wir unser verbrieftes Menschenrecht aufs Da-Sein und etwas Aufmerksamkeit einlösen und Gerechtigkeit wollen. Völker, die noch einen Gott im Rücken haben, Attentäter, die dessen Werkzeug sind, mögen es etwas leichter haben, denn ihrer ist das Paradies. Dennoch sind die Motive gottloser Individualterroristen denen der organisierter Aufräumer im Herren verblüffend gleich.
Wir erinnern uns kurz noch an den Hauptlehrer Ernst Wagner, der 1913 im Schwäbischen erst seine Frau und seine vier Kinder umbrachte, daraufhin ins Dorf lief, Häuser ansteckte und ein Blutbad anrichtete, bei dem neun Menschen auf der Strecke blieben und ein weiteres Dutzend Dörfler angeschossen wurde. Er war als Literat gescheitert. Wer nicht hören will, muss fühlen: "Wir schiffen zu sehr in übelriechenden Niederungen und müssen jetzt endlich den Ballast auswerfen, um in reiner gesunder Region zu schweben. Ich habe ein scharfes Auge für alles Kranke und Schwache, bestellt mich zum Exekutor und kein Kommabazillus soll durchschlüpfen. 25 Millionen Deutsche nehme ich auf mein Gewissen und es soll nicht um ein Gramm schwerer belastet sein als zuvor." So Wagner, ein grandioser Aufräumer. Zu jener Zeit bastelt Hitler an seinen spastischen Phantasmen für Mein Kampf. Später wird Wagner sich den "ersten Nationalsozialisten" nennen. Und uns nietzscheanisch zurufen: "Der Teufel hole eure ganze Sittlichkeit, sie ist Schleim und Lüge." Man begreift den Triumph Hitlers und die Hingabe des deutschen Volkes sofort als die staatliche Organisierung der in uns schlummernden Aufräumerphantasien. Als eine gewaltige, Kräfte frei setzende Entlastung der Volkspsyche.
Der Individualterrorist erscheint dagegen eher als ein Kasperl. Selbst wenn er einen Präsidenten trifft. Aber in ihm bebt alles, was in der Welt bebt. "Was ist das für eine Welt, in der ein anständiger junger Bursche wie Samuel Byck eine Boeing aufs Weiße Haus stürzen lassen muss, um seinen Standpunkt klar zu machen.", heißt es in Stephen Sondheims Musical Assasins. Sondheim, der mit wenig Erfolg und wenig Musik die Grenzen des Musicals auszutesten versucht, hat Assassins vor gut zehn Jahren geschrieben, ein Flop damals, unrecycelbar heute in den USA. Samuel Byck hatte in Briefen an Senatoren neben Krediten für sich den Rückzug der Israelis von der Sinai-Halbinsel gefordert, im Nikolauskostüm das Tagesgeschehen vor dem Weißen Haus kritischer Würdigung unterzogen, Kassetten mit seinen Botschaften an von ihm verehrte Prominente verschickt und als alles nichts half, ein Flugzeug gehijackt. Er erschoss den Co-Piloten, als der Pilot sich weigerte, aufs Weiße Haus zu stürzen und richtete sich selbst. "Alles was ich mir an Weihnachten wünsche, ist mein verfassungsmäßiges Recht, meine Regierung öffentlich um eine Entschädigung für meine Missstände zu bitten." Das in der Lebenswirklichkeit uneingelöste verfassungsmäßige Recht, das amerikanische Glücks- und Freiheitsversprechen, das sich um so tiefer einbrennt, je weiter sich seine Verwirklichung entfernt, ist das Zentrum, um das der Individualterrorismus in acht präsidentenfällenden oder -gefährdenden sondheimschen Skizzen ächzt. Und um das Insistieren auf diesem "Menschenrecht", auf Herstellung der Gerechtigkeit, wenn es nicht anders geht auf eigen Faust mittels einer Waffe in derselben. Ein Fingerkrümmen genügt, die Geschichte um- und sich selbst gebührend hineinzuschreiben. Von John Wilkes Booth, dessen Colt 1865 zu Lincoln von der Rassenfrage spricht, bis zu John Warnock Hinckley jr. der 1981 Ronald Reagen anschießt, um über diesen Weltverstärker endlich Widerhall bei Jodie Forster zu finden. Indes hat Giuseppe Zangara eine Schwäche des Individualterrorismus am Tag seiner Hinrichtung am eigenen Leib erlebt. Er hatte Franklin Delano Roosevelt wegen allgemeiner politischer Unzufriedenheit im Visier, aber den danebenstehenden Bürgermeister von Chicago tödlich getroffen. Er soll, sein Leben lang von psychosomatischen Unterdrückungsschmerzen gequält, auf dem Elektrischen Stuhl gerufen haben: "Kein Kameramann, kein Film da, um Zangara aufzunehmen? Lausige Kapitalisten, nicht mal einen Film!" Wie gesagt, 1933. Heute hülfe auch kein Film. Die warholschen 15 Minuten des Ruhms, sind ein verstaubter, zu Tode inflationierter Witz.
Die im inneren Beben des marginalisierten Individualterroristen aufschießenden Gerechtigkeitsphantasien, seine von enttäuschter Liebe und Hoffnung winselnden Bitte um Anerkennung, seine bittere Rechthaberei, die bizarre Errichtung des eigenen Denkmals, kurz seine Überlebenswut, hätten durchaus auch mit der sondheimschen Vorlage einen Blick auf die verblödete und verblödende Frontstellung des Kampfes des Guten gegen das Böse und den neuen Krieg gegen den organisierten Terrorismus und auf diesen selbst freisperren können. Don DeLillo sagt in seiner weitgehend sinnlosen Schrift zum 11.September In den Ruinen der Zukunft: "Doch das Hauptziel der Männer, die das Pentagon und das World Trade Center angriffen, war nicht die Weltwirtschaft. Es ist Amerika, das ihre Wut auf sich zog. Es ist der Hochglanz unserer Modernität. Es ist die Stoßkraft unserer Außenpolitik. Es ist die Macht der amerikanischen Kultur, durch jede Mauer, in jedes Heim, jedes leben, jedes Gehirn zu dringen." Sehen wir von der mehr als seltsamen Trennung der "Weltwirtschft" von der Kultur, die sie hervortreibt oder -schießt und derer sie bedarf, um freies Schussfeld zu haben einmal ab, so liegt darin doch jene Wahrheit, die Verzweiflung und die Not der schnellen Tat zu rechtfertigen scheint. Der Marginalisierung der Globalisierungsverlierer im Innern, folgt die der schachmatt globalisierten Welt und die Enteignung der Hirne. Das ist zuviel. Das ist nicht zu ertragen und nicht abzuwarten. Da muss schnell gehandelt, muss aufgeräumt werden. "Mein Gehirn gehört mir", kann nur solange störrisch behauptet werden, solange es mir noch gehört. Zivilisierung beschreibt unter diesen Bedingungen nur die Ersetzung von Gerechtigkeit durch Geschacher zur Absicherung der globalen Marktziele.
Aber die Neuköllner Oper hat sich nicht richtig getraut. Sie packt aus Sorge um die politische Korrektheit ihr Musical-Wagnis in eine Klammer von Arbeitslosenelend, zu dessen Darstellung sich am Anfang der Inszenierung alle zum Nummernziehen einfinden müssen, und gegen Ende zu einem Gejammer über die Lügen der Parteien und Politiker - hier Republikaner und Demokraten, aber das in einer ans Publikum geschmierten Aufdringlichkeit, dass sie auch gleich hätten "Wahlkampf" winseln können -, als ob die Politiker uns auch nur ein Gran mehr belügen würden, als wir uns selbst. Gelegentlich lässt Regisseur Peter Lund die vergammelten Symbole linker Selbstverständigung vorzeigen: Burger-Schachteln und Popcorn-Eimer. Das verstärkt die Vergartenzwergung der Aufführung. Da ist es nur noch von untergeordneter Bedeutung, dass in der Interpretation der kleinen Kapelle, die sparsame Musik Sondheims - er ist kein Freund von Gassenhauern und strickt gelegentlich folkloristisch abgeschmeckte Floskeln aneinander - ihrer möglicherweise, hier aber nicht einmal erahnbaren verstärkenden oder ergänzenden Qualitäten beraubt wird. Dass die Singspielkünstler in dem genreuntypisch Vielen, das schauspielerisch darzustellen, überfordert sind, und dass im Stimmlichen (warum bloß muss immer noch so gesungen werden, als wollten die Akteure im nächsten Leben TenörInnen werden, und hätte es die ausdifferenzierte, individualisierte Formentwicklung des Gesangs in den Achtzigern nie gegeben) doch ziemlich viele Schwächen unangenehm foltern.
Die Neuköllner Oper, so lieb wir sie aus guten Gründen alle haben, hat in dieser Koproduktion mit der UdK Berlin und dem Kleist Forum Frankfurt (Oder ) aus einem brennenden Stoff ein müdes Kasperlespiel gemacht. Sie hat vorbeigeschossen.

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