Auch nach dem NATO-Gipfel in Lettland gilt der Satz, der jedem eine gewisse Zurückhaltung auferlegt, der sich seit Jahrzehnten mit der Allianz beschäftigt: Nach dem Gipfel ist vor dem Gipfel. Dennoch ließ Riga aufhorchen. Selten stand ein solches NATO-Treffen schon vor der eigentlichen Veranstaltung so im Zentrum des öffentlichen Interesses. Selten blieb danach der Eindruck so stark haften: Es könnte sich etwas in der Substanz der Allianz geändert haben, denn die Bäume der Amerikaner wuchsen nicht in den pazifischen Himmel. Was freilich vermuten lässt, es dürfte weitere Versuche geben, die NATO ausschließlich zur Fortsetzung der amerikanischen Politik mit nichtamerikanischen Mitteln zu entwickeln. Worum es da von der Dimension her geht, machte in Riga Jacques Chirac all jenen deutlich, die in den letzten Jahren Angriffe aus Washington auf die Vereinten Nationen für eine überhörenswerte Marotte hielten: Riga sollte den Weg in eine zweigeteilte Welt öffnen - hier die NATO global unter angelsächsischer Führung, dort die UNO als Schmuddelkind.
Wer das Kommuniqué des Gipfels mit seiner Aufzählung der Problemzonen liest, sollte sich daher fragen: In welcher Verfassung war der Westen eigentlich vor anderthalb Jahrzehnten? Wie konnte er handeln? Welchen Konflikten sich stellen? Führung musste doch nicht bedeuten, die Allianz von einem Schlammloch zum nächsten zu führen, auch wenn zuweilen der Eindruck entstand, die Führungsmacht folgte genau diesem Bedürfnis.
Nirgendwo wird augenfälliger, was in diesen 15 Jahren geschah, als im Irak. Dort gab es bis zur US-Intervention 2003 keine Al-Qaida-Strukturen - heute werden sie von den Sunniten als Schutzschild genutzt, aus Furcht, ansonsten massakriert zu werden. Wenn das Kommuniqué von Riga den internationalen Terrorismus bei den aufgelisteten Herausforderungen ganz oben einstuft, müsste der Ehrlichkeit halber hinzugefügt werden, dass es sich ganz erheblich um selbst verschuldete Konflikttopoi handelt. Besonders deutlich wird das in Afghanistan. Erst wollte die US-Regierung die NATO dort nicht sehen, inzwischen wird es zum Lackmus-Test für Bündnistreue hoch stilisiert, ob ein NATO-Mitglied seine Soldaten für Totschlagaktionen der Besatzungstruppen in Südafghanistan zur Verfügung stellt. Es muss doch alarmieren, wenn nach fünf Jahren "Befriedung" in Afghanistan plötzlich die Taliban wieder Viertel in Kabul dominieren, wie den Meldungen dieser Tage zu entnehmen ist. Früher oder später dürfte ein Abzug unausweichlich sein. Offen scheint nur, wer das einzugestehen wagt, und wer der NATO notfalls beisteht. Warum eigentlich kann die in Riga in Aussicht genommene Kontaktgruppe unter Einschluss von Nachbarstaaten nicht mehr sein als ein Placebo, um Zeit zu gewinnen? Die Ölkonzerne, die ihre Pipelines durch Afghanistan treiben wollten, um die Energieversorgung Indiens kontrollieren und den Iran ausmanövrieren zu können, kommen doch auch nicht voran, solange das Angebot aus Teheran über eine regionale Verständigung ausgeschlagen wird. Immerhin wächst die Zahl der Staaten, die nicht länger zusehen wollen, wie sie durch den Konfliktherd Afghanistan selbst unterminiert werden. Warum sollte China auf Dauer hinnehmen, dass dank afghanischer Drogenhändler seine Grenzprovinz Singkiang mit ihren uigurischen und sonstigen Minderheiten destabilisiert wird? Soll Peking der Kontaktgruppe nur Erfolg wünschen? Oder ist nicht vielmehr ein chinesischer Beitrag eine Voraussetzung ihres Erfolgs?
Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, für eine gewisse Überraschung hat in Riga das Angebot an Serbien gesorgt, der NATO näher zu treten. Man darf spekulieren, was wäre geschehen, wenn die Allianz im Herbst 1998 eine solche Offerte unterbreitet hätte? Seinerzeit wurde stattdessen Belgrad aufgefordert, den USA das Gelände für die heutige Festung Camp Bondsteel im Kosovo zur Verfügung zu stellen und dadurch einen bevorstehenden Krieg zu vermeiden. Als man sich weigerte, begann die NATO ihre Interessen im Zusammenhang mit der Kosovo-Frage militärisch durchzusetzen. Mit welchen Konsequenzen, ist bekannt. Dennoch steht eine Entscheidung über den künftigen Status der Provinz bis heute aus. Für 2007 zeichnet sich eine Lösung ab, die möglicherweise das bisherige europäische Verständnis von Völkerrecht soweit unterläuft, dass die KSZE-Schlussakte von Helsinki nicht mehr das Papier wert ist, auf dem sie steht. Nur was geschieht mit Europa? Wie lässt sich der Verlust an Rechtssicherheit ausgleichen, wenn Grenzen durch Gewalt oder infolge von Gewalt verändert werden, die einmal zum garantierten Inventar der europäischen Nachkriegsordnung gehörten?
Willy Wimmer, CDU-Bundestagsabgeordneter
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