Wie unzeitgemäß zeitgemäß das alte, in vielen Sprachen bekannte Sprichwort Eile mit Weile ist, lässt sich anschaulich belegt bei Fritz Reheis nachlesen. Der etwas zu werbewirksam verführerische Titel seines in zweiter Auflage erschienenen Buches: Die Kreativität der Langsamkeit. Neuer Wohlstand durch Entschleunigung. Nach Stan Nadolnys ruhevollem Roman Die Kunst der Langsamkeit eine wissenschaftlich erpichte Abhandlung, die uns alle einsichtig machen will, wie fruchtbar, gesund und ausgeglichen unser aller Leben würde, beherzigten wir allseits das Sprichwort, emphatisch die Weile betonend. Die doppelte Zeit-Diagnose, die Reheis vorträgt, verlangt freilich, dass wir eilig ins Zeitalter der Langsamkeit eintreten. Alsbald, wie es Luther-deutsch in der Bibel heißt. Unsere Zeit ist, folgt man Reheis' Diagnose "beschleunigungsverrückt". Innovationstoll ist ihre schlechthin führende Vergesellschaftungsform, die kapitalistische Ökonomie. Darauf programmiert, Fortschritt allein in den olympischen Kapitalzielen zu erleben: höher, weiter und vor allem immer schneller. Bis hin zur schieren Gleichzeitigkeit des Kapitalverkehrs, der Börsenspekulation und möglichst auch von Produktion und Konsumtion: Von der Hand in den Mund. "Wenn das Geld die Welt regiert und wenn Geld Zeit ist, dann ist das unerbittliche Zeitdiktat im Begriff, eine totalitäre Herrschaft über die Welt zu errichten."
Die Devise Benjamin Franklins "Zeit ist Geld" begleitet in der Tat die kapitalistische Moderne mit all ihren wissenschaftlichen, technischen und kulturellen Konnexinstituten. Sie durchdringt in gleicher Logik die politische Vergesellschaftsform Staat. Also herrscht - zusammen mit der Gier des Erfindens - die Furie des Verschwindens immer gefräßiger. Wenn in einigermaßen gelungener Gesellschaft eher statische und eher dynamische Faktoren sich prekär balancieren müssen, dann reißt die globalisierende Wachstums-, Macht- und Profitdynamik alle Gesellschaften in ihren innovatorisch-zerstörerischen Sog.
So überzeugend Fritz Reheis die "Alarmsignale" der entrutschenden Zeit vorstellt, so richtig er die "Fehler im Programm" der Beschleunigung diagnostiziert, so anheimelig und sympathisch seine "Entschleunigungs"-Überlegungen wirken - in Richtung individueller "Zeithygiene" und kollektiver "Zeitpolitik" -, so sehr hapert es in Diagnose und "Vision". Denn immer wieder ist der Autor in Gefahr, eine laudatio temporis acti, ein Lob der Vergangenheit zu singen. Als sei es im Mittelalter oder zu anderen vormodernen Perioden in der gesellschaftlichen Zeitökonomie mit rechten Dingen zugegangen. Reheis' diagnostische Fehler sind dort folgenreicher, wo er vom Hintergrund einer allzu harmonischen Vorstellung von Mensch, Natur und Gesellschaft aus analysiert, wie dies bei nicht wenigen ökologisch Engagierten der Fall ist, die sogenannte Nachhaltigkeit als des menschlichen Raubbaus unproblematische Lösung erachten. "Gerechtigkeit in diesem elementaren Wortsinn Herrschaft also dann, wenn alles zusammenpasst, das Verhältnis zur Natur, das Verhältnis der Menschen untereinander." - Am wenigsten überzeugt Reheis dort, wo er ins analysefreie Postulieren verfällt mit der edlen, indes Probleme leicht verklebenden Absicht, "Mut zu machen". So vertritt er, trotz seiner kapitalismuskritischen, wohl aber zu oberflächlichen Einsichten, einen geradezu naiven, nicht ungefährlichen politischen Voluntarismus. In einem Zusammenhang argumentiert er (zu recht) basisdemokratisch und adressiert zugleich, ohne irgendwelche Korrekturen der etablierten Institutionen, die Legislativen an der Spitze. Gleichzeitig verlangt er eine, geradezu an einen ökologisch-demokratischen Wohlfahrtsausschuss erinnernde verbindliche "Zeitpolitik" im einzelnen ungenannter Instanzen. "Zeitpolitik muss die künstliche Beschleunigung evolutionär entstandener Prozesse durch abgestufte Eingriffe stoppen beziehungsweise die Entschleunigung einleiten." Das dann folgende "positive" Programm - angefangen mit einem positiven Gesundheitsbegriff in unkritischem Anschluss an die WHO-Formel - verstärkt die Bedenken gegen eine institutionell unausgewiesene "Zeitpolitik", die "einen verbindlichen Rahmen zum Schutz der Eigenzeiten schaffen" soll.
Reheis schließt hoffnungsfroh und zugleich zeitabgrundtief: "Und drittens sind die Chancen für eine konsequente Entschleunigungs- und eine neue Wohlfahrtspolitik auch deshalb günstiger als früher, weil heute die Mittel (sic!, WDN) für eine solche Umprogrammierung von der Produktion auf die Reproduktion im Prinzip vorhanden sind. Was allein fehlt, ist der politische Wille, diese Mittel einzusetzen." Das ist schlechte, ja gefährliche Hofferei. Sie zieht sich rotfädig durch "die Kreativität der Langsamkeit" und erschwert die zustimmungsgerichtete Lust an der Lektüre. Wenn es so einfach wäre, wenn es nur etwas mehr guten Willens brauchte, wenn die Politiker könnten, wollten sie nur ... - ja, dann wär's wohl fast märchenhaft wie in Cölln doch vordem. Fritz Reheis tut seiner Sache nichts Gutes, wenn er alle kapitalistische herrschaftliche, weltweit expandierte Schwere, wenn er die Schwierigkeiten notwendiger, nicht leicht zu findender anderer Wege im lauwarmen Wasser der Langsamkeit entspannt und mit wohlmeinendem Müssen überspringt. Das Buch lohnt dennoch - die Kreativität der Lesenden muss freilich über die Lektüre hinausreichen. Eile mit Weile.
Fritz Reheis: Die Kreativität der Langsamkeit. Neuer Wohlstand durch Entschleunigung. Primus-Verlag, Darmstadt 1998, 281 S., 29,- DM
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