I. Ein großes Plakat prangt an den Wänden. Darauf der erste und zweite Absatz von Artikel 1 des Grundgesetzes. »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.« Und: »Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder staatlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.« Die Partei, die mit diesem Plakat dafür wirbt, bei der anstehenden Europa-Wahl gewählt zu werden, trägt das Kürzel CDU, Christlich Demokratische Union. Ihre Werbung kann zweierlei bedeuten. Sie kann besagen, daß die Herrschaftspartei der Bundesrepublik seit 1949 die Grund- und Menschenrechte zu ihrem po
zu ihrem politischen Programm erhoben hat und sie in jeder geforderten Hinsicht zu praktizieren gedenkt. Sie kann aber auch besagen, daß in der Bundesrepublik, wie anderwärts auch, edle, menschlich wichtige Werte dazu herhalten müssen, den Bürgerinnen und Bürgern ein schönes X für ein eher ärmliches oder gar häßliches U vorzugaukeln. Im aktuellen Krieg der NATO-Staaten - die Bundesrepublik eingeschlossen - können wir mal wieder erfahren, wie hehre Rechte willfährig auf Herrschaftspropaganda getrimmt werden (und wie viele dieser Propaganda erliegen, die es besser wissen sollten). Das »Positive« ist einfach viel angenehmer als das »Negative«. Vor allem, wenn man sich selbst zum »Positiven« rechnet. Der Krieg wird zur Friedensschalmei. Bomben werden zu Sprachorganen der Menschenrechte. Und das Grundgesetz, das unter anderem jeden Angriffskrieg strikt verbietet, wird uminterpretiert. Als handele es sich bei seinen Normen um großzügig umfahrbare Slalomstangen. Je nach herrschendem Interesse - versteht sich.II. Wie sich's mit der beschriebenen Alternative über die CDU hinaus in der Wirklichkeit verhält, ob die Bundesrepublik ein Land grund- und menschenrechtlicher Praxisfülle darstellt oder nur den symbolischen Zirkus, hier mit Menschenrechtsmalen, statt mit Vergangenheitsdenkmälern, das lehren genauere Blicke auf Geschichte und Gegenwart der Bonner - seit 1990 um mehr als fünf neue Bundesländer gewachsenen - Republik. (Eine »Berliner« gibt es bis dato nur als Literatengebräu).Zuallererst gilt: Daß die Grund- und Menschenrechte gemäß Artikel 1 Absatz 3 des Grundgesetzes »unmittelbar geltende« Rechte jeder Bürgerin und jedes Bürgers darstellen, ist ein unfraglicher politisch humaner Fortschritt. Zumal im Kontext deutscher Geschichte. Damit korrespondiert auch die wichtige Rechtswegegarantie.»Unmittelbare« Geltung meint allerdings »nur« (wenngleich immerhin), daß all diese Normen von Artikel 1 bis Artikel 19 samt international vereinbarter Menschenrechtskataloge von jedem Menschen und bei einem Teil der Artikel von allen (Staats-)Bürgerinnen und Staatsbürgern gerichtlich, letztlich beim Bundesverfassungsgericht eingeklagt werden können. So ein Doppeltes zutrifft. Zum einen: die nachweisliche Verletzung eines Grund- und Menschenrechts zum Schaden eines Individuums. Zum anderen: Daß der normale Rechtsweg über drei Instanzen hinweg erschöpft ist. »Unmittelbare« Geltung als juristischer Sachverhalt besagt also nicht, daß Grund- und Menschenrechte strukturell, institutionell und individuell überall bestünden. Dann wären nur Abweichungen wie Pickel auf einer ansonsten menschenrechtsglatten Haut klagebedürftig.Daß es mit der »unmittelbaren Geltung« seine eigene Bewandtnis hat und die herrschende Meinung der Judikatur außerdem noch ein großes Herz für höchst mittelbare Geltung besitzt, zeigt ein Blick in die menschenrechtliche Praxis dieser Republik. Einige illustrative Hinweise auf die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit müssen genügen, ihre gähnende Tiefe könnte leider allzu leicht systematisch belegt werden.- Die Würde des Menschen »ist«, heißt es im Sinne einer Behauptung, »unantastbar«. Wie steht es wohl, fragen lesende Bürgerinnen und Bürger, mit Leuten, die als »Langsträfler« in Gefängnissen sitzen; oder mit solchen in geschlossenen psychiatrischen Anstalten; oder mit den Obdachlosen, die gegenwärtig überall mit neuen Polizeigesetzen an die Stadtränder Âgesäubert werden; oder nicht zuletzt mit den Asylsuchenden, denen meist schon die viel größere »Würde« des »deutschen Raumes« verweigert wird?- »Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich«, hallt es volltönend im ersten Absatz von Artikel 3 des Grundgesetzes. Nur: manche sind, wie George Orwell trefflich formulierte, sehr viel »gleicher als die anderen«. Die zum Teil massive Ungleichheit rührt nicht nur daher, daß die Grund- und Menschenrechte die kapitalistisch strukturell ungleiche Gesellschaft voraussetzen. Deren Ungleichheit wird andauernd erneuert und gegenwärtig wieder drastisch verstärkt. Das sozialpolitische Zwischenspiel ist vorüber. Während seiner Geltung sind strukturell/aktuelle Ungleichheiten wenigstens kräftiger wattiert worden. Vielmehr sind es staatliche Gesetze, die bildungs-, arbeitsmarkt-, gesundheits- und nicht zuletzt steuerpolitische Ungleichheiten und zusätzlich solche zwischen den Geschlechtern rechtlich so festzurren, daß die behauptete Gleichheit zur äußeren Form zu verkümmern droht.- Grund- und Menschenrecht um Grund- und Menschenrecht müßte ich Revue passieren lassen. Dann zeigte sich, daß durchgehend, nicht nur beiläufig Lücken und Mängel festzustellen sind. Im Recht auf Integrität (Art. 2 GG), das nicht zuletzt infolge technologischer Entwicklung rundum in Frage steht; in der wichtigen Meinungsfreiheit (Art.5 Abs. 1 GG), die vielfach eine bodenlose Farce bleibt; in den CDU-staatlichen Familien- und Schulartikeln (Art. 6 und 7 GG), die mehrheitlich nicht nur einseitige Familien- und Bildungsmuster festzuschreiben suchen, sondern vielfach leere Ansprüche bleiben; wenigstens festhalten will ich noch, daß der Gesetzgeber - und im ersten Fall auch das bestätigende Bundesverfassungsgericht - Grundrechte bis zu Unkenntlichkeit ausgehöhlt hat. Unter anderen zum 1. 7. 1993 den Artikel 16 Absatz 2: »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.« So auch letztes Jahr, eine vorausgreifende Morgengabe der neuen »roten« Regierungspartei, den Artikel 13, in dem es im ersten Absatz heißt: »Die Wohnung ist unverletzbar.« Welch eine Lüge angesichts des nunmehr zum zweiten Teil des Artikels gewordenen Großen Lauschangriffs.III. Unabhängig von Verletzungen oder Lücken einzelner Artikel und zahlreicher Verkürzungen gilt insgesamt, daß die mehrheitlich vertretene Konzeption der Grund- und Menschenrechte, wie sie aus dem klassenbürgerlichen 18. Jahrhundert überkommen ist, den heutigen Problemen und den zukünftigen menschlichen Bedürfnissen und Nöten nicht mehr angemessen ist. Darum ist es auch eine mehr als »nur« vereinigungspolitische Katastrophe, daß am Grundgesetz 1994 - unwesentlich verändert - orthodox festgehalten worden ist. Zum Schaden vor allem der Grund- und Menschenrechte. Sollen die mehr als punktuelle Bedeutung besitzen, müssen sie als demokratische Aktivrechte aller Bürgerinnen und Bürger formuliert und praktiziert werden. Zur (politischen) Teilnahme als essentiellem Bürger- und Menschenrecht, gehört notwendig ein Recht auf Teilhabe. Das besagt, daß weit über den formell staatlichen Bereich hinaus materielle und arbeitsspezifische Bedingungen zu gewährleisten wären, die verhindern, daß Grund- und Menschenrechte als normative Luftwurzeln verkümmern.nMichael JägerZu viel StabilitätWolfgang UllmannRaum des Rechts?Thomas KochEigensinnige Auslegungen
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