User mit Pensionsberechtigung

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Wenn ich morgens meinen Computer anstelle, lese ich: "Guten Tag, lieber User! Ich hoffe, es geht Ihnen gut und wünsche Ihnen frohe Verrichtung. Wenn Sie die neuesten Meldungen aus Wirtschaft, Politik und Verwaltung abrufen möchten, wählen Sie bitte das aktuelle Info-Programm." Ich wähle. Schon erfahre ich, was ich als informierter Mitarbeiter und User wissen muss, aktuell und komprimiert. Anschließend absolviere ich nach dem Spezialprogramm erst einmal mein allmorgendliches Fitness-Training. Als Beamter bin ich gehalten, zum Wohle unserer Adressaten nicht nur geistig, sondern auch körperlich mobil zu bleiben.

Etwas außer Atem, schaue ich in meiner Mailbox nach. In der Tat liegt eine E-Mail meiner Frau vor: die unvermeidliche Einkaufsliste und dazu die Anfrage betreffend unserer gemeinsamen Abendgestaltung. Wichtige Angelegenheiten bedürfen natürlich der sofortigen Entscheidung. Unverzüglich maile ich meine Vorstellungen zurück.

Doch jetzt ist es Zeit für eine kurze Unterbrechung zum unumgänglichen Besuch einer gewissen Örtlichkeit, der sich bedauerlicherweise noch nicht virtuell simulieren lässt. Wieder an meinem Arbeitsplatz zurück, wähle ich per Mausklick das gewünschte Getränk und ein Sandwich, die mir unmittelbar darauf per Elevator zugestellt werden.

Nach dem Frühstück kommt der interessanteste und aufregendste Teil meiner täglichen Verrichtungen: Ich gebe mein Passwort ein und schon bin ich im Programm zur Errechnung meiner aktuellen Pensionsbezüge. Wieder ein paar Cents mehr! Verlockend steht mir mein späterer Ruhestand vor Augen, der leider noch einige Jahrzehnte auf sich warten lassen muss.

Danach hole ich mir mein Bankkonto auf den Monitor und erledige die anstehenden Transaktionen. Spannend vor allem die Börsendaten. Jeden Tag aufs neue die Frage: Kaufen oder verkaufen? Natürlich geht es um Bagatellbeträge. Kein Risiko, niemals! Aber das Roulette an der Börse hebt den Adrenalinspiegel.

Jetzt gehe ich, wie jeden Tag, meine speziellen Websites durch, um mich auf dem laufenden zu halten. Dann kommt der Austausch mit unseren auswärtigen Kollegen. Und endlich wieder eine Verschnaufpause: Mittagessen! Das differenzierte Angebot auf dem Bildschirm verlangt ein hohes Maß an Aufmerksamkeit und Entscheidungskompetenz. Konzentriert bestelle ich das von mir bevorzugte Menü Light. Jedes mal eine Zäsur.

Nach dem Mittagessen finde ich mehrere hausinterne E-Mails vor, die es zu sichten gilt. Um 14.00 Uhr schließen wir uns im Hause auf Sachbearbeiterebene zu einer Internet-Konferenz zusammen, um uns fachlich auszutauschen und auf den neuesten Stand zu bringen. Dann ist es endlich an der Zeit, meine zu bearbeitenden Karteien aufzurufen. Eigentlich lohnt es sich gar nicht mehr, denn die gleitende Arbeitszeit gebietet majestätisch schon fast den Feierabend. Aber man tut, was man kann. Schließlich sind wir als Beamte auf der Höhe der Zeit, und die moderne Kommunikationstechnik ermöglicht uns heute ein selbstbewusstes und effizientes Arbeiten zum Wohle der Allgemeinheit.

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