Eine kleine radikale Minderheit besinnt sich auf ihre originäre Rolle. Die Debattenbeiträge und -schwerpunkte auf der Frühjahrskonferenz der Anti-Atom-Bewegung in Mülheim/Ruhr vom vergangenen Wochenende haben sich nur indirekt um die Karlsruher Beschlüsse der Bündnisgrünen zum Atomausstieg bewegt. Aber dennoch war spürbar, es ging um eine klare Orientierung der in die Jahre gekommenen Bewegung.
Die Distanz zu Parteien, insbesondere zu den Bündnisgrünen, auf deren Ausstiegsrhetorik bisweilen wütend reagiert wurde, beförderte die Debatte um die Rolle des außerparlamentarischen Protests. "Back to the roots"? Wenn die grüne "Ausstiegspartei" sich von der Bewegung distanziert, Koalitionslogik und Regierungsbeteiligung übe
g über programmatische Einsichten stellt, öffnet sich ein Vakuum. Auch wenn in der Vergangenheit immer wieder betont wurde, dass der außerparlamentarische Protest Motor der Ausstiegsdebatte war, so gab es doch stets ein Wechselspiel zwischen grüner Partei und Bewegung.Viel Raum ließen sich die rund 140 Delegierten deshalb für die polit-ökonomische Analyse. Die Energiewirtschaft beharrt auf dem Bestandsschutz für die - zumeist abgeschriebenen - Kraftwerke. Diese sind, so lange sie störungsfrei und ohne größere Reparaturen laufen, Gelddruckmaschinen. Verzichtet Trittin auf die Politik von Nadelstichen, wird der sicherheits- und ausstiegsorientierte Gesetzesvollzug ausgesetzt: Ein entscheidendes Druckmittel entfällt, nämlich durch Nachbesserungen und Auflagen den Reaktorbetrieb zu verteuern. Längst sind die Reaktorhersteller Westinghouse (USA) und der schwedisch-schweizerische ABB-Konzern aus dem Atomgeschäft ausgestiegen, die Produktion sämtlicher Anlagenteile ging an die British Nuclear Fuel Limited (BNFL) Sellafield. Siemens und Framatome fusionieren, und so streiten sich nur noch wenige Anbieter um einen Markt, der keiner mehr ist, denn es herrscht seit Jahren anhaltende Auftragsflaute. Weltweit tritt nur noch Russland als konkurrierender Anbieter von AKW auf. Henrik Paulitz vom IPPNW, Koordinator der Siemensboykott-Kampagne, frohlockte: Der nukleare Geschäftsbereich mache bei Siemens nur zwei Prozent des Umsatzes aus, beschädige aber das Konzernimage. Komme die Liberalisierung des Gasmarktes, gebe es für die Atomkraft ernsthafte Konkurrenz, das könnte den Ausstieg beschleunigen.Ansatzpunkte für außerparlamentarische Aktivitäten, den Preis für die Atomkraft politisch und pekuniär in die Höhe zu treiben, gibt es in Hülle und Fülle: An den Kraftwerksstandorten brodelt es, weil sich heftiger Widerstand in der Bevölkerung gegen den Bau der dezentralen Zwischenlager regt. Klagen werden den Bau verzögern und verteuern. In Ahaus und Gorleben rüsten sich die AtomkraftgegnerInnen für die nächsten Castortransporte, und "X-1000-mal-quer" wird mit bundesweiter Unterstützung an allen AKW-Toren den Abtransport von Brennelementen in die WAA La Hague oder ins verruchte Sellafield blockieren. Die Hamburger "Regenbogen"-Fraktion, eine Grünen-Abspaltung, will einen umfassenden Atomstrom-Boykott initiieren, und Anfang Mai debattieren Umweltverbände, Bürgerinitiativen und Gewerkschaften in Hannover erstmalig gemeinsam auf einem Kongress den Themenkreis "Atomausstieg, Energiewende und Arbeitsplätze".Frustriert über die Rückenstärkung für Jürgen Trittins Antrag, sich mit dem Auslaufmodell Atomkraft zu arrangieren und weiter auf die Konsensverhandlungen mit der Energiewirtschaft zu setzen, hatten erst vergangene Woche sechs von sieben Kreistagsabgeordneten der Bündnisgrünen im Wendland ihr Parteibuch zurückgegeben. Gerade im Wendland, der "Wiege der grünen Partei", verursachte der rot-grüne Konsenskurs Bauchschmerzen und spitzte die Gewissensnöte einiger BasisvertreterInnen zu. Selbst für die Inbetriebnahme der heftig umstrittenen Pilot-Konditionierungsanlage (PKA) in Gorleben will Trittin grünes Licht geben, zwar nicht für ihren ursprünglichen und beantragten Zweck als Endlager-Verpackungsanlage, sondern als Servicestation für die Reparatur von Castorbehältern. Das seit einem Jahr überfällige Moratorium auf der Endlagerbaustelle im Salzstock Gorleben ist, wenn es denn noch kommen sollte, ein Witz, weil damit nichts über das Ende von Gorleben gesagt ist. Die Wendländer wollen weiter auf die Straße gehen und Widerstand leisten beim nächsten Castortransport - ein Prozess der Positionierung ist in Gang gekommen, bei diesen Parteiaustritten wird es nicht bleiben.Es hat etwas von einer Selbstverpflichtung, man weiß eben hier wie dort, dass nur bei anhaltender Handlungs- und Aktionsfähigkeit der Bürgerinitiativen der Streit um die Atomkraft nicht beigelegt wird.