Eine europäische Lösung

Europa und der Atom-Müll Die EU-Kommission will einen Fonds für die Finanzierung von Endlagern einrichten. Stromkonzerne fürchten um ihre Milliarden

Wenn im Jahr 2004 die Europäische Union um zehn osteuropäische Länder wächst, dann wächst auch die Menge der Atomkraftwerke in der EU, denn in fünf der zehn Beitrittsländer sind 19 Reaktoren am Netz. Mit einem »Gemeinschaftskonzept für die nukleare Sicherheit und Entsorgung radioaktiver Abfälle« will die EU-Kommissarin Loyola de Palacio deshalb Mindeststandards für den sicheren Betrieb der Kraftwerke festlegen. Zum Nuklearpaket de Palacios gehören auch Überlegungen, wie die Atommüllentsorgung geregelt werden soll. Ende Januar hatte die Europäische Kommission zwei entsprechende Richtlinienentwürfe verabschiedet, die in den Monaten zuvor erheblichen Wirbel verursachten.

So plädierte die Kommission für eine europäische Lösung der Endlagerung nuklearer Abfälle. Der Export von Atommüll von Mitgliedstaaten mit sehr begrenzten Abfallmengen in Länder mit höherem Aufkommen stelle die aus umweltpolitischer, sicherheitstechnischer und wirtschaftlicher Sicht wahrscheinlich sinnvollste Lösung dar. Aus dem Hause Trittins ist jedoch zu hören: »Die Bundesregierung besteht für Deutschland auf einer nationalen Endlagerlösung.« Den EU-Staaten soll es selbst überlassen bleiben, ob sie ihre Endlager für ausländische Kunden öffnen, lautet nun der Kompromiss.

Die EU-Kommissarin Loyola de Palacio hatte zwar vermieden, den Ortsnamen Gorleben auszusprechen, als sie auf ein »aussichtsreiches Endlager« in der Bundesrepublik verwies. Der niedersächsische CDU-Politiker Lutz Stratmann, designierter Umweltminister in einem CDU-Kabinett, preschte vor und pries Gorleben als europäisches Atomklo. Nach dem Ausgang der Landtagswahlen in Hessen und Niedersachsen witterte der Präsident des Deutschen Atomforums Gert Maichel Morgenluft. Auf dessen Wintertagung plädierte er dafür, an Gorleben und dem Schacht Konrad als Atommülldeponien festzuhalten und keinen Cent für die Erkundung anderer Standorte auszugeben. Die Debatte um einen ergebnisoffenen Neustart bei der Endlagersuche, wie sie der Arbeitskreis Endlagerung (AK End) im Auftrag des Bundesumweltministeriums initiiert hatte, wäre dann allerdings Makulatur.

Rückstellungen

Die seit 1969 von Stromkonzernen angesparten Rückstellungen sind für Stilllegung, Abriss und Flächen-Sanierung der Atommeiler vorgesehen. Dieses Geld, von Stromkunden bezahlt, nutzt die Energiewirtschaft für ihre Expansion in andere Branchen. Insgesamt wurden für deutsche Atomkraftwerke 31,4 Milliarden Euro zurückgelegt (Stand: 31. 12. 2001).
Die Kosten für die Entsorgung von AKW werden auf etwa 15 Prozent der Gesamtinvestitionen geschätzt - zwischen 200 Millionen und einer Milliarde Euro pro Anlage. Eon hatte Ende 2001 für diesen Zweck 10,7 Milliarden Euro zurückgelegt, bei RWE waren es 10,6 Milliarden Euro, und bei EnBW 6,0 Milliarden Euro. Bisher können die Atomstrom-Betreiber ihre Rückstellungen völlig frei verwenden und investieren. Und für das Vermögen fallen keine Steuern an.

Offen bleibt, wie sichergestellt werden kann, dass auch künftig Positionen einzelner EU-Mitgliedsländer, wie beispielsweise das Votum für eine nationale Endlager-Lösung oder Beschlüsse des EU-Ministerrats, nicht durch europäisches Recht beeinträchtigt werden und welchen Stellenwert in diesem Zusammenhang die Europäische Atomgemeinschaft (Euratom) hat, in deren Geltungsbereich ab 2004 die 19 »Ost-Reaktoren« wechseln. Die Euratom ist zum Zweck der Förderung, Koordinierung und Kontrolle der nuklearen Forschung und der Atomenergieindustrie 1957 gegründet worden. Der anachronistische Euratom-Vertrag privilegiert die Nutzung der Atomkraft und zementiert die Wettbewerbsverzerrungen auf dem Energiemarkt. Das politische Wirrwarr und Kompetenzgerangel verdeckt nur dürftig, dass die Atomwirtschaft mit Hilfe der Euratom massive Lobbypolitik betreibt, denn in fünf der EU-Staaten werden keine Atomkraftwerke betrieben und weitere sechs streben mittlerweile den Atomausstieg an.

Bizarr mutet an, dass die streitbare Atomlobbyistin de Palacio mit einem anderen Vorschlag Beifall von unerwarteter Seite bekam, nämlich von Seiten der Öko-Institute. Mit Blick auf die osteuropäischen Beitrittsländer regte sie an, die Finanzierung der nuklearen Entsorgung zu klären und zu »harmonisieren« und einen Fonds für nukleare Entsorgung anzulegen.

In Deutschland belaufen sich derzeit die Rückstellungen der Stromkonzerne (siehe Kasten) für die Entsorgung der Atommeiler auf über 30 Milliarden Euro, während in Frankreich lediglich 9,6 Milliarden Euro für die Stilllegung der Kraftwerke zurückgelegt wurden. Umgerechnet auf die Kraftwerke heißt das, dass in der Bundesrepublik fast das Zehnfache, nämlich 1,5 Milliarden Euro für jedes AKW gegenüber 127 Millionen Euro in Frankreich angespart wurden. Eine »Harmonisierung« ist in der Tat überfällig, aber das würde nicht reichen. Die Liberalisierung auf dem Strommarkt kann dazu führen, so die Warnung von Wolfgang Irrek vom Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie, dass Firmen Insolvenz anmelden und die angesparten Gelder futsch sind. Deshalb findet der Vorschlag de Palacios, einen Fonds für die nukleare Entsorgung anzulegen - auch wenn dies in dem jetzt beschlossenen Konzept bei einer nationalen Verantwortung bleiben soll - seine Zustimmung. Wolfram König, Präsident des Bundesamtes für Strahlenschutz (BfS), plädiert mit anderen grünen Parteifreunden schon seit geraumer Zeit für eine solche Fonds-Lösung. Damit wäre zugleich die Finanzierung einer weiteren Endlagersuche nach dem Verursacherprinzip gesichert. Sehr zum Unbehagen der Energiewirtschaft: Denn diese 30 Milliarden Euro sind steuerfreies »cash-flow« und wurden - solange die Rückstellungen auf dem Papier existierten - für sektorenübergreifende Geschäfte wie den Einstieg in die Telekommunikation genutzt.

Schützenhilfe bekommen die Befürworter der Fonds-Lösung noch von ganz anderer Seite. Gegen die krasse Wettbewerbsverzerrung als Folge der Rückstellungspraxis klagen die Stadtwerke Schwäbisch Hall und drei weitere Stadtwerke vor dem Europäischen Gerichtshof. Im November 1999 hatten sie beim EU-Wettbewerbskommissar Mario Monti eine Beschwerde eingereicht. Das Bundeswirtschaftsministerium hatte sich in diesem Streit auf die Seite der vier Multis auf dem deutschen Strommarkt gestellt und erklärt, einer Harmonisierung auf europäischer Ebene stehe man zwar offen gegenüber, aber die Rückstellungspraxis stelle »keine Vergünstigung im Sinne einer staatlichen Beihilfe« dar. Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement blieb dieser Linie treu und stellte sich vor die Großkonzerne: »In Deutschland basiert die gegenwärtige Form der Kernenergienutzung auf einem sehr sensiblen und intensiv ausgehandelten Kompromiss zwischen Bundesregierung und Energiewirtschaft.«

Eine solch massive Parteinahme für die Strommagnaten wirft nun wieder eine ganz andere Frage auf: Hat es etwa neben der verlängerten Laufzeit für das AKW Obrigheim im Rahmen der Konsensverhandlungen auch noch ein weiteres Kanzlerehrenwort gegeben, nämlich die Milliardenbeträge der Stromkonzerne unangetastet zu lassen?

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