Frankreich kann vernünftigerweise nicht auf die Kernenergie verzichten." Dieses Credo der französischen Industrieministerin Nicole Fontaine bestimmte am 10. Oktober 2003 die Schlagzeilen französischer Tageszeitungen. Fast beschwichtigend fügte sie hinzu, es sei doch nur ihr Vorschlag an die Adresse des Premierministers Jean-Pierre Raffarin, eine Entscheidung zugunsten des sogenannten EPR zu treffen. Seitdem gibt es intensive Debatten um die "Dritte Generation", wie der Europäische Druckwasserreaktor (European Pressurized Water Reactor - EPR) genannt wird. Die Hoffnung auf eine Renaissance der Atomkraft hat auch die angeblich ausstiegsgebeutelte deutsche Atomgemeinde erfasst.
Die "dritte Generation" wäre ein energiepolitischer "Rollback", meinten Tausende, die am vergangenen Samstag gegen Frankreichs Neubaupläne demonstrierten. Um zu symbolisieren, was gemeint ist, marschierten sie rückwärts durch die Straßen von Paris. Lärmend, mit Blechdosen, kleinen "Atommüllfässern", scheppernd und vielfach kostümiert. Ein internationales, bizarres Bündnis aus Ökologie-Gruppen, Grünen und der radikalen Linken aus 27 Ländern hatte zu der Demo aufgerufen: von Finnland über Griechenland bis Ägypten, von Russland bis Argentinien. Trotzdem blieb man "unter sich" - vor allem die Sozialisten und Gewerkschaften geben sich in der Atom-Debatte zugeknöpft.
Seit der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl vor bald 18 Jahren hat es in Europa nur eine einzige Neubestellung gegeben, und zwar in Finnland. Der finnische Stromkonzern TVO will einen Druckwasserreaktor in Olkiluoto, 250 Kilometer nordwestlich von Helsinki, bauen und hat am 8. Januar die notwendigen Anträge gestellt. Die Bauarbeiten sollen im nächsten Jahr beginnen, und ab 2009 soll der Reaktor Strom liefern. Auch in Finnland geht es um jenen hart umkämpften Reaktor der "Dritten Generation", mit dem der Wiedereinstieg in die Nutzung der Atomkraft beziehungsweise deren Fortschreibung gelingen soll.
Ob in Frankreich oder Finnland, Anbieter ist das Baukonsortium AREVA, ein deutsch-französisches Gemeinschaftsprojekt von Siemens und Framatome. Gepriesen wird bei der Neuentwicklung dessen "inhärente Sicherheit". Dahinter verbirgt sich, dass die 1.600 Megawatt starke Anlage mit einem keramisierten Auffangbecken unterlegt wird. Im Fall eines Super-Gau mit Kernschmelze soll die hochradioaktive Lava sich nicht in das Erdreich hineinfressen und das Grundwasser verseuchen. Das Becken müsste allerdings absolut trocken sein, wenn sich die Schmelze darin ausbreiten soll, damit es nicht zu gefährlichen Dampfexplosionen kommt. Die atomkritische Ärzteorganisation IPPNW warnt: "Andererseits müsste zur Kühlung der Kernschmelze diese anschließend gezielt mit Wasser bedeckt werden, was aber wiederum die gefürchteten Dampfexplosionen heraufbeschwören würde."
Zehnmal sicherer als die herkömmlichen Atommeiler sei der EPR, geriet Nicole Fontaine ins Schwärmen. Über die ungelöste Atommüllentsorgung, die Gefahr der Verbreitung von atomwaffenfähigem Material und die schleichende Umweltverseuchung durch die Gewinnung des Uranerzes wie durch den "störungsfreien" Reaktorbetrieb sagt sie allerdings nichts. Allein in der Europäischen Union lagern 500 Tonnen des Ultragifts Plutonium, jährlich wächst der Plutoniumberg um 70 Tonnen - weniger als zehn Kilogramm reichen aus, um eine Atombombe zu bauen. Auch zu der Warnung, Atomkraftwerke könnten Ziel von Terrorattacken aus der Luft werden, schweigt Madame Fontaine. Das Sicherheitskonzept des EPR - lange vor dem 11. September geplant - sieht einen solchen Fall nicht vor. Trotz der langen Liste ungelöster Sicherheitsprobleme bewerben sich bereits französische Kommunen als Standort für den Bau eines Atomkraftwerks der dritten Generation. Heißer Favorit ist der Standort Penly (Seine-Maritime). Mitbewerber sind Flamanville am Ärmelkanal und die Region Rhône-Alpes, berichtet die französische Tageszeitung Le Monde.
Wird der neue Kraftwerkstyp tatsächlich lanciert, stellt sich zuerst die Kostenfrage. Ein Neubau wird nach übereinstimmenden Angaben Fontaines und anderer Quellen nicht unter drei Milliarden Euro zu haben sein. Der Chef des mächtigen staatlichen Energiekonzerns EDF, François Roussely, räumte bereits ein, dass nur mit staatlicher Hilfe die nukleare Runderneuerung stattfinden könne. Weil bis zum Jahr 2025 etwa ein Drittel des französischen Kraftwerkparks erneuert werden müsse, so Roussely, seien jährliche Investitionen von fünf Milliarden Euro nötig. Damit aber wäre die Hälfte aller EDF-Investitionen für den Bau neuer Atomkraftwerke gebunden.
Um diesen Kraftakt zu bewältigen, setzt EDF nicht nur auf Subventionen, sondern will auch langfristig mit industriellen Partnern kooperieren. Die Baukosten eines EPR in Frankreich möchte Roussely am liebsten unter "europäischen Betreibern" aufgeteilt sehen. Und der französische Partner von Siemens im AREVA-Konsortium, die Framatome, setzt nach Angaben ihres Chefs Vincent Maurel darauf, dass der EPR sich zu einem Exportschlager entwickelt.
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