Die Sozialdemokraten wollten sich am Ende der Legislaturperiode daran messen lassen, ob sie die Arbeitslosigkeit in den Griff bekommen. Der grüne Juniorpartner sah als Messlatte für eine erfolgreiche Regierungsbeteilung, ob die Zähmung der Atomkraft gelingen würde. Beide Ziele wurden verfehlt, gelungen ist nur die Zähmung der Grünen. Und dennoch werden sie im Wahljahr 2002 dafür werben, wiedergewählt zu werden, um Rot-Grün fortzusetzen, weil sie sich als Garanten für die Umsetzung des Atomausstiegs empfehlen. Die Frage ist, ob diese Wahlempfehlung bei ihrer Klientel ankommt. Die Atomkraft ist ohnehin ein Auslaufmodell. Sie ist unwirtschaftlich und wird durch andere Energie ersetzt werden, wahrscheinlich vor allem durch Gas. Es ging und geht um die Frage des Ausstiegs eben aus dem Auslaufen, wie es die Wirtschaft nach ihren Interessen geregelt und garantiert sehen will. Die Grünen haben nicht den Ausstieg, sondern den Verzicht auf "Nadelstiche" gegen die Wirtschaft mitbeschlossen.
Der Streit um die Atomkraft ist mit der Novelle des Atomgesetzes, die am 14. 12. 2001 im Bundestag mit den Stimmen der Regierungsmehrheit beschlossen wurde, noch lange nicht beendet. Dieses Gesetz zur Förderung der Atomkraft bekam nun eine Ausstiegspräambel verpasst. Im Schatten von Terror, Krieg und Sicherheitspaket II ging das fast unter. Die grüne Parteispitze apostrophierte die Abstimmungsmehrheit als "Schlussakt" eines gesellschaftlichen Konflikts, der seit einem Vierteljahrhundert die Meinungen polarisierte. Sonnenblumen gab es mitten im Winter: Man weiß um die Niederlage und feiert trotzig sich selbst.
Der Atomausstieg hat begonnen, allerdings nur auf dem Papier, denn das Gesetz ist ein einziger Etikettenschwindel. Zustande gekommen ist es auf der Basis einer Vereinbarung zwischen Bundesregierung und Energieversorgungsunternehmen, die am 14. Juni 2000 unterzeichnet wurde. In der Präambel sichert die Bundesregierung zu, dass "der ungestörte Betrieb der Kernkraftwerke wie auch deren Entsorgung gewährleistet werden". Mit der Stromwirtschaft wurde verabredet, dass noch einmal so viel Atomstrom erzeugt werden darf wie bisher, nämlich 2.600 Terrawattstunden. Das Volumen hochradioaktiver Abfälle wird sich verdoppeln, obwohl ein belastbares Endlager nicht in Sicht ist. Die Atomkraft ist auf ihrem Zenit angelangt.
Das Gesetz befristet zwar den bisher unbefristeten Reaktorbetrieb, aber es schreibt überlange Laufzeiten fest und die Möglichkeit, Stromkontingente von Reaktor zu Reaktor zu übertragen, und zwar von Alt- auf Neuanlagen und umgekehrt. So bleibt das neue Atomgesetz praktisch folgenlos für die Stromwirtschaft. Bestes Beispiel ist die Kanzlerzusage, dass das AKW Obrigheim über seine gesetzlich festgelegte Nutzungsdauer hinaus, die im Jahr 2002 eigentlich endet, am Netz bleibt. Im Jahr 2003 soll als erster Reaktor das Atomkraftwerk (AKW) Stade stillgelegt werden. Manfred Timm von den Hamburgischen Elektrizitätswerken (HEW) stellte wiederholt klar: Das Abschalten dieses Kraftwerks habe wirtschaftliche Gründe und werde unabhängig vom Energiekonsens vollzogen, ganz gleich, welche Regierung 2003 an der Macht ist. Die Stromkontingente, die aus der verfrühten Stilllegung des 600-Megawatt-Reaktors resultieren, wären entsprechend der Vereinbarung ohnehin auf andere Reaktoren der HEW übertragbar.
Die Atommüllproduktion wird nicht beschränkt, die Wiederaufarbeitung in La Hague und Sellafield nicht verboten. Bis zum Juli 2005 rollen die Castoren zu den europäischen Nachbarn zwecks Plutoniumextraktion. Der Strahlenmüll kann voraussichtlich ab 2005 direkt neben den AKW in neuen Hallen zwischengelagert werden. So lässt sich der Reaktorbetrieb störungsfrei ohne lästige Blockaden von Castortransporten fortsetzen. Ab 2008 müssen dann zusätzlich 308 Castorbehälter mit komprimierten Hülsen und Strukturteilen aus der Wiederaufarbeitung irgendwo "entsorgt" werden. Vermutlich in Gorleben, denn dort soll der übrige Wiederaufbereitungs-Müll abgestellt werden. Über allem hängt das Damoklesschwert Endlager Gorleben, denn das Moratorium dieses Projekts ist nicht gleichbedeutend mit seinem Ende.
Nicht einmal zur Neubewertung des Reaktor-Risikos nach dem New Yorker Terroranschlag sah Rot-Grün einen Anlass. Das Gesetzespaket sollte nicht wieder aufgeschnürt, das Wohlwollen der Konzernchefs nicht strapazieren werden. Dabei gäbe es "gute" Gründe: Der Physiker Dr. Helmut Hirsch wies in einer Untersuchung im Auftrag der Umweltorganisation Greenpeace nach, dass von den 19 deutschen Reaktoren keiner gegen den Aufprall eines Großraumflugzeugs ausgerüstet ist. Die fünf ältesten Anlagen sind gerade mal gegen den Aufprall von Sportflugzeugen, die anderen gegen den Aufprall von Kampfjets ausgelegt. Um die Lebensgefährlichkeit der Reaktoren zu begreifen, bedarf es wahrlich nicht der Mutmaßungen über Terrorangriffe. Doch für die Regierung hätte der 11. September Anlass sein müssen, das "Restrisiko" Flugzeugabsturz - ob nun unfallbedingt oder bewusst herbeigeführt - neu zu bewerten. Stattdessen wiederholte die Trittin-Administration gebetsmühlenhaft, dass ja das Abenteuer Atomkraft mit der Gesetzesnovelle beendet würde. Nein, es bleibt so, wie es ist. Die Branchenvertreter würdigten denn auch die große Rechtssicherheit, die endlich gegeben ist, um das Abenteuer Atomkraft fortsetzen zu können.
Der Verzicht auf einen sicherheits- und ausstiegsorientierten Gesetzesvollzug - die "Friedenspflicht" - schützte jetzt sogar die Betreiber des AKW Philippsburg vor gravierenden Konsequenzen, wie sie das Atomgesetz vorsieht, wenn die Zuverlässigkeit einer Anlage nicht gegeben ist. 17 Jahre lang wurde bewusst gegen Vorschriften beim Hochfahren der Reaktoren nach jeder Revision verstoßen. Der TÜV wurde getäuscht. Außer einigen Rücktritten des technischen Vorstands geschah nichts. Man stelle sich vor, was die Grünen als Oppositionspartei mit Recht gefordert hätten: die sofortige Stilllegung der beiden Reaktorblöcke.
Eine Politik der Nadelstiche statt des "Konsenses" hätte zwischen 1988 und 1995 Atomenergie-Investitionen in Höhe von 15 Milliarden DM zum Scheitern gebracht; elf Milliarden steckten in Anlagen, die wegen gerichtlicher Streitigkeiten beim einst ausstiegsorientierten Gesetzesvollzug blockiert waren, beklagte 1995 die Lobbyzeitschrift atomwirtschaft (atw 7). Was lernen wir daraus? Es gibt ein Leben jenseits der Regierungsbeteiligung: Umweltgruppen und juristische Strategien wie in den neunziger Jahren, ergänzt durch das erfolgreiche Zusammenwirken von parlamentarischer Opposition und/oder Regierungsbeteiligung auf Länderebene, das könnte ein Gegenentwurf zum Eintritt in die Bundesregierung sein.
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