Warum präsentiert man Kolumnen, Vorträge und kleine Essays, die fast alle schon einmal erschienen sind, aufs Neue und macht daraus ein Buch? Wäre eine Monographie nicht die bessere Lösung, dem zweiten Aufguss vorzuziehen?
In dem hier zu besprechenden Fall lautet die Antwort eindeutig nein. Die vorliegende Sammlung von insgesamt sechsunddreißig Lesestücken (plus Epilog) aus der Feder des gelernten Architekten und heutigen Architekturkritikers Wolfgang Kil rekapituliert den Umbau der ostdeutschen Gesellschaft buchstäblich und prozesshaft zugleich.
Buchstäblich, insofern sie die Metapher vom Umbau wörtlich nimmt und vom »Bauen in Zeiten des Übergangs« handelt; prozesshaft, weil sie das jüngste Kapitel der deutschen Baugeschichte s
n Baugeschichte schlaglichtartig zusammenfasst und in die Vorgeschichte der deutschen Teilung einordnet.Absicht und Stil der zumeist kritischen Interventionen stehen akademischer Attitüde fern; der Autor versteckt sich nicht, er gibt seine Hoffnungen preis, nicht minder seine Enttäuschungen. Und die gewinnen die Oberhand, je spätere Phasen der neudeutschen Architektur- und Stadtentwicklung er betrachtet, desto mehr.Am Anfang steht neugierige Gespanntheit. Im »kurzen, unvergesslichen Winter der Anarchie« als das gesellschaftliche Leben spontan erwachte und zwischen »nicht mehr« und »noch nicht« taumelte, als auf Straßen demonstriert, auf Plätzen gefeiert und in Berliner U-Bahnhöfen Theater gemacht wurde, schien vieles machbar. Warum nicht auch eine Architektur, die sich von dieser historischen Stunde öffentlichen Glücks inspirieren ließ? Warum nicht in und von Berlin, wo der deutsch-deutsche Prozess am heftigsten pulsierte? »Aus den Bilderbüchern ist die Geschichte in den Alltag zurückgekehrt. Und es ist sehr gut möglich, dass Berlin das Laboratorium wird, in dem einige entscheidende Konturen dieser neuen Geschichtlichkeit zum Vorschein kommen werden. Damit sich den Berlinern zuliebe, davon eher die guten als die bösen auswirken, sind auch die Fantasien der Städteplaner und Architekten gefordert.«Die Aufgerufenen regten sich, auch außerhalb Berlins. Kil erinnert an die 1. Leipziger Volksbaukonferenz vom Spätherbst 1989 und an die 1. Dessauer Erklärung vom Juni 1990, die unter reger westdeutscher Beteiligung vor der Wiederholung dortiger Fehlentwicklungen warnte. Er erinnert freilich auch, und damit ist er bei seinem traurigen Thema, an die 2. Dessauer Erklärung vom August 1994 und zitiert bekümmert deren Fazit: »Durch einen zunehmenden Verlust ihrer Zentralfunktion sind die Städte und Gemeinden buchstäblich in ihrer Existenz bedroht ... Eine zweite Welle der Zersiedlung folgt, anstatt das vorhandene Altbaupotential zu nutzen ... Die Umkehrung der überkommenen Siedlungsstruktur - das Einkaufszentrum am Stadtrand als neues Zentrum - stellt die Geschichte der mitteleuropäischen Stadt auf den Kopf: die Bürger, die Verantwortung für das Gemeinwesen zu übernehmen bereit sind und die Stadt als Ort gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und kultureller Begegnung gehen verloren.«Verloren damit auch die Hoffnung des Autors auf eine »lebendige Praxis bürgerschaftlicher Emanzipation«, die die städtebaulichen Potenzen des Ostens (Vergesellschaftung des Bodens, Gleichheitsempfinden, soziale Mischung statt Segregation) demokratisch aufheben, in den Umbauprozess gleichsam hineinnehmen könnte. Er wartet vergeblich«auf eine neue Baukultur im Osten«, unter Einbeziehung ostdeutscher Planer, Architekten, Stadtentwickler; auf eine Baukultur, die die gesellschaftliche Herkunft und Signatur der ostdeutschen Städte im Umbauprozess nicht verleugnet, sondern ausdrücklich betont, und er reagiert, zunehmend ungehalten:»Der Transfer von im Westen gültigen Architekturstandards hat zur Vereinigung der Deutschen nur im Sinne einer oberflächlichen Angleichung beigetragen. Wo immer mehr sächsische, thüringische oder anhaltinische Kleinstädte ihren Partnergemeinden aus Niedersachsen oder Westfalen bald zum Verwechseln ähnlich sehn, muss man sogar von Gleichmacherei reden. Die baukulturelle Selbstentdeckung und Selbstentfaltung der ÂNeuen Länder' wurde von dieser architektonischen Importlawine schlicht überrollt und damit verhindert.«Ob er denn hier ernstlich die Rolle des Marxisten spielen solle, fragte Kils Gesprächspartner bei der öffentlichen Buchpräsentation, der westdeutsche..., ironisch ins Publikum. Es sei doch allemal das gesellschaftliche Sein, konkret gesprochen: Bonität, Renommee, soziale Beziehungen, Vertrautheit mit rechtlichen und anderen Regelungen, die bei der Vergabe und Ausführung baulicher Aufträge den Ausschlag gäben. Diesbezüglich seien westdeutsche Architekten nun einmal in der besseren Position. Nur folgerichtig, dass sie das Rennen machten (und machen) und nicht ihre ostdeutschen Konkurrenten.Da konnte und wollte Kil nicht widersprechen. Denn das war der Kern seiner Klage. Man könnte ihm höchstens vorhalten, dass er das zivilgesellschaftliche Credo der alten Bundesrepublik für bare Münze nahm und ihren »alltäglichen Marxismus« unterschätze. Aber welcher Ostdeutsche hätte dieses Missverständnis nicht wenigstens momentan geteilt.Kils Texte lesen sich wie Dokumente eines bösen Erwachens. Die Utopie wird notleidend, das Sündenregister, das an ihre Stelle tritt, wird immer länger. Da sind die abstrusen Planspiele zum Berliner Alexanderplatz, gigantomanisch und geschichtsvergessen. Statt der Öffnung des Platzes zum Osten hin zeitgemäße Gestalt zu geben, zirkeln die preisgekrönten Entwürfe ihn gerade gegen die östlichen Quartiere ab und bestimmen ihn darüber hinaus zum Symbol westlicher Landnahme. Da ist die neue Friedrichstraße mit ihren »eingebuddelten Hochhäusern«, dem Sog der Kaufpaläste und unterirdischen Passagen. Kein Raum zum städtischen Flanieren, zum zwanglosen Verkehr, zum unerwarteten Zusammentreffen, eine einzige »Absage an die demokratische Kultur der Straße«. Da ist die Neue Messe in Leipzig, ein »imposantes Zeichen«, gewiss, vor allem aber urbane Fahnenflucht, »Triumph der Antistadt, Altes Denken«. Da sind die neuen »Vorstädte«, wie Karow-Nord vor Berlin, »nur in Bildern gedacht«, rein ästhetisch, nicht sozial und mit ihrer »Orientierung auf den solventen Mittelstand« soziale Mischung zielsicher verhindernd, Verrat am Urbanismus auch sie; da sind die ostdeutschen Denkmäler und Straßennamen, die plötzlich nicht mehr in die neue Landschaft passten (als eigneten sich die deutschen«Helden« beider Weltkriege besser zu Repräsentation; die Wettbewerbe um neue Denkmäler (z.B. für den Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953), bei denen Ostdeutsche weder als Bürger noch als ernsthafte Berücksichtigung fanden; da ist - schließlich - die Abwicklung der ostdeutschen Moderne der sechziger Jahre (Hotel Berolina, Außenministerium, Lindenkorso), die mitsamt ihrem »Ideal stadtbürgerlicher Gleichheit« alsbald zum »Feindbild« führender westlicher Politiker und Architekten avancierte.Kil lässt sich bei seiner oft beißenden Kritik nicht von Geschmacksfragen leiten, von ästhetischen Kriterien nur, sofern sie pragmatische einschließen. »Es geht um Inhalte«, schreibt er an einer Stelle programmatisch und meint damit, ganz Wittgensteinianer, den sozialen Gebrauch (Gebrauchswert und Gebrauchsweise) als letzte Urteilsinstanz alles Gebauten. »Urbanität, diese verwaschene Lieblingsformel aller aktuellen Stadtdiskussionen, ist keine Frage von Platzräumen oder Straßenbildern, sondern eine Kategorie sozialen Verhaltens. Die ÂZivilität' von Stadtbürgern misst sich weder an verfeinerten Umgangsformen, noch am luxuriösen Konsum; sie zeigt sich in der Lust am politischen Handeln.«Sein auf radikale Weise soziales, dabei immer geschichtsbewusstes Architekturverständnis findet noch da ein Haar in der Suppe, wo sein ästhetischer Sinn an sich befriedigt ist. Zu Peter Kulkas Plenarsaal des neuen Landtags am Dresdner Elbufer heißt es überaus lobend: »Eine Architektur, die auch mich begeistert - mit ihrer lapidaren, aber nirgendwo simplen Geometrie, mit der Strenge ihrer konstruktiven Details, mit der Bescheidenheit ihrer alltäglichen Materialien, mit der transparenten Leichtigkeit, die Würde zwar zulässt, aber nie zum beherrschenden Motiv erhebt.« So spricht der Genießer. Und so der Citoyen: »Aber wäre es nicht angemessener gewesen, sich auf die eigene Tradition zu besinnen und erst einmal das (gewiss nicht konfliktfreie) Wachsen und Werden der jungen sächsischen Demokratie zu verfolgen, bevor man ihr auch zu baulich-symbolhaftem Ausdruck verhilft?...Was erzählt das neue Dresdner Parlament den Bürgern des Freistaates eigentlich von ihrer ÂRevolution?«Täusche ich mich oder ist diese Art von Kritik, die sich lieber selbst auf die ästhetische Schleppe tritt als selbstverliebt abzuheben, hierzulande selten geworden? Mich jedenfalls hat sie überzeugt, nicht mit jedem einzelnen Urteil, wohl aber mit ihrem Gestus. Kritiker seiner Couleur müssten Politikern und anderen städtebaulichen Entscheidungsträgern zwangsverordnet werden. Denn so lange sie im Bündnis mit von ihnen rekrutierten (und daher auch von ihren Gratifikationen abhängigen) Experten und Juroren allein das Sagen haben, werden sie aus jenem kolonialen Geiste handeln, den der ehemalige Berliner Senatsbaudirektor Hans Stimmann schon 1992 in verräterische Worte fasste: »Wir haben eine 1,3 Millionen-Einwohner-Stadt geerbt und verwalten sie mit Bauherrenbewusstsein aus dem vielfach gescholtenen Westberlin.«Wolfgang Kil: Gründerparadiese. Vom Bauen in Zeiten des Übergangs. Verlag Bauwesen, Berlin 2000, 49,80 DM
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