Es ist noch dunkel in Berlin, kurz vor sechs am Morgen. Erster Automobilverkehr brandet auf. Eigentlich noch zu früh, um über die Zukunft nachzudenken; selbst, wenn es um die eigene geht. In den Zeitungen wird berichtet, dass sich der jugendlich wirkende Investor Nicolas Berggruen nach dem Karstadt-Coup jetzt an der spanischen Prisa-Verlagsgruppe beteiligt, zu der auch das Traditionsblatt El País gehört. Von Berggruen, Unternehmer ohne festen Wohnsitz, mit Sinn für Kultur und Nachtleben, stammt der schöne Satz: „Was wir tun, ist das, was Bestand haben wird; der wahre Wert liegt in unseren Aktivitäten.“
Um eben mal nachzusehen, wie es im Inneren eines so genannten unabhängigen Buchverlags, sprich: Independent, aussieht, muss ich nichts weiter tun, als von meinem Schreibtisch aufzuschauen. Hallo, Blumenbar. Ein Schriftzug an der Wand. Ein Sofa, klar, zum Lesen von Manuskripten oder für das gepflegte Gespräch am Abend. Ein Bett, in dem sich Autoren ausruhen können oder das Lektorat. Ein Regal mit den Büchern der anderen. Eine Ablage für die Rechnungen, auch die noch unbezahlten. Ein Plattenspieler, auf dem sich gerade „She brings the rain“ von Can dreht.
Die Buchbranche, eigentümliches Gemisch zwischen rasantem Markt und unendlicher Trägheit, befindet sich insgesamt gesehen in einer mindestens vorrevolutionären Phase. Prognosen blühen in alle Richtungen. Random-House-Chef Markus Dohle erklärte jüngst: „Wahrscheinlich liegt der Anteil der elektronischen Bücher selbst in den USA bis 2015 eher zwischen 25 und 50 Prozent“. Wahrscheinlich? Eher zwischen 25 und 50 Prozent? Genauer weiß man’s offenbar nicht. So sagen die einen, in allerspätestens zehn Jahren werde die Digitalisierung über den Buchmarkt hinweggefegt sein und von dem, was heute ist, nicht viel übrig gelassen haben. Andere wie Umberto Eco stellen das gedruckte Buch in eine Reihe mit dem Rad, und dem geht es im Allgemeinen ja noch recht gut.
Ziemlich klar dürfte sein, dass der immense Aufwand, den es bedeutet, ein Buch zu produzieren, zu lagern, in den Handel zu befördern, gegebenenfalls wieder abtransportieren und zu Dämmstoff pressen zu lassen, längst Spitzenwerte erreicht hat, die zurückgehen werden. Das betrifft vor allem jene Titel – zum Beispiel Taschenbücher aus dem Unterhaltungssektor –, die für den einmaligen Gebrauch bestimmt sind.
Gleichzeitig wächst die Szene der Independent-Verlage. Ökonomisch mögen sie im Gesamtbild noch so gut wie keine Rolle spielen. Doch was öffentliche Wirkung sowie Vielfalt, Qualität und vor allem Glaubwürdigkeit der Publikationen angeht, sind die Independents auf dem Vormarsch. Gegenüber Konzernverlagen haben sie einen kleinen entscheidenden Vorteil. Die einen verlegen, weil sie müssen. Und die anderen, weil sie wollen. Während nun in unterschiedlichsten Branchen einstige Gegenkulturen Teil des Marktes geworden sind, ist der Buchmarkt noch vergleichsweise resistent. Das wird nicht so bleiben. Man kann Äpfel nicht mit Büchern vergleichen. Aber auch die Silbe „Bio“ hat klein angefangen. „Indie“ könnte folgen.
Im Geiste des Punk
War es 2003 noch eine Handvoll Verlage, die sich erstmals für nichts weiter als eine gemeinsame Party unter dem Motto „Book Fair à Go-Go“ zusammengetan haben, ist daraus inzwischen ein Forum aus rund dreißig kleinen Verlagshäusern in Deutschland, Österreich und der Schweiz geworden. Neu dabei sind die erstmals in diesem Jahr mit großem medialen Echo und auffällig interessanten Programmen auftretenden Verlage Walde und Graf, Zürich, und der Berliner Secession Verlag. Alle zusammen besitzen sie eine Zugkraft, von der etwa die lobenswerterweise von der Bundesregierung mitfinanzierte Kurt-Wolff-Stiftung „zur Förderung einer vielfältigen Verlags- und Literaturszene“ nur träumen kann.
Das ließ sich nicht zuletzt an der Hotlist ablesen, dem neu geschaffenen Preis der Independents. Letztes Jahr an einem bewölkten Vormittag in der Tiefe eines Büroraums im Geiste des Punk entstanden, wurde ebendiese Liste – auch als gut gelaunter Seitenhieb auf die Hanser- und KiWi-gepflasterten Listen des Deutschen Buchpreises – komplett undemokratisch in die Welt gesendet und hat eine bemerkenswerte Dynamik entfaltet.
Denis Scheck stellte sich im Herbst 2009 kurzerhand als Moderator der Preisverleihung zur Verfügung („Mir gefällt diese dadaistische Geste und die rotzfreche Chuzpe.“). Die Mayersche Buchhandlung stiftete das Preisgeld – und nachdem die neue Liste schon am Tag darauf heiß gehandelt wurde und sich über zehntausend Menschen an der Online-Abstimmung auf Freitag.de beteiligten, strömten sechs Wochen nach Auslobung gefühlte zweitausend Gäste auf die Indie-Party, wo Alexander Schimmelbusch schließlich den ersten Preis davontrug. Lustigerweise wurde die Idee unmittelbar nach Argentinien weitergetragen, wo es seit diesem Jahr ebenfalls eine Hotlist der Unabhängigen gibt. „Wir fanden die Idee großartig“, sagt Leonora Djament, Professorin und Mitarbeiterin des argentinischen Indie-Verlags Eterna Cadencia, „zunächst wegen des Geistes gegenseitiger Hilfe unter Kollegen; und wegen der Möglichkeit, in den Buchhandlungen unsere Veröffentlichungen sichtbar zu machen.“
Im Jahr zwei der Hotlist, erstmals offiziell ausgeschrieben und diesmal unter Schirmherrschaft des Buchmarkt, sind es bereits 110 Verlage (Vorjahr: 20), die Titel eingereicht haben. Schaut man sich die Einreichungen genauer an, ist zwar nicht alles schön und gut. Es gibt neben Belletristik und Sachbuch auch Kinderbücher, Ratgeber und anderes Rätselhaftes, wild durcheinander. Und ohne Vorselektion ist das Problem von Online-Abstimmungen, die die Hälfte der Schlussrunde ausmachen, dass nicht unbedingt der bessere Titel, sondern die bessere digitale Marketing-Maschine gewinnt.
Doch genau daran müsse eben gearbeitet werden, die Liste muss ihren Charme bewahren und gleichzeitig professioneller werden, meint stellvertretend für viele Beteiligte Axel von Ernst vom Lilienfeld Verlag, einer der aktuell maßgeblichen Aktivisten. René Kohl, Betreiber der Internetplattform Kohlibri und ebenso treibende Kraft, geht einen Schritt weiter. Er sieht in der Hotlist ein verlockendes Marketinginstrument, das über einen Preis hinaus wirken und kontinuierlich ausgebaut werden könnte.
Die Bücher der Independents hätten es verdient. Romane wie Ben von Annika Scheffel (kookbooks), Juja von Nino Haratischwili (Verbrecher) oder Mein Leben in Aspik von Steven Uhly (Secession) sind zuletzt von den großen Feuilletons hoch gelobt worden; im Handel würden sie sich umso besser am gleichen Tisch (oder an einer Bar) machen, versehen mit Independent- oder Hotlist-Label.
Vor dem Hintergrund, dass das Büchersterben schon begonnen hat, Verlage im Zuge der Digitalisierung noch mehr an Gesicht verlieren dürften, die klassische Bücherkaufgeneration in nicht allzu ferner Zukunft von einer neuen abgelöst werden wird und schließlich das kritische Bewusstsein der consumer steigt, könnte der Wert der Marke „Independent“ größer werden, als mancher heute ahnt.
In einer Blitzumfrage unter jungen Verlegerinnen und Verlegern stellte sich heraus, dass jeder ein kleines Büro begrüßen würde, das gemeinsame Aktivitäten koordiniert und die Marke „Independent“ im Handel stark macht. Und, wie immer unter unabhängigen Verlagen, gilt der Grundsatz: Der Wille ist da, die Ideen sprühen – nur Kapital fehlt. Dafür aber sind sich die meisten auch einig, dass sie lieben, was sie tun, und dass dieses schwer zu beschreibende Gefühl von Identität, die Einheit von Literatur, Leben und Verlegen, durch nichts aufzuwiegen wäre. Oder wie Daniela Seel von kookbooks sagt: „Zur Not bin ich mein eigener Mäzen.“
Berlin erwacht langsam. Bis der Tag im Büro wirklich beginnt, werden es nur noch wenige Augenblicke sein. Gleich werden die Telefone losgehen, Anwälte, angehende Autoren, Lieferanten werden sich melden. Noch aber ist es still, die Schreibtische unbesetzt. Vielleicht ist es Zeit für neue Bündnisse. Literarischer Underground und Kapital – ein schönes Paar.
Berggruen, übernehmen Sie, es kann losgehen.
Wolfgang Farkas, 1967 in München geboren, ist Mitbegründer und Leiter des Blumenbar Verlags
Die Preisverleihung der Hotlist 2010 findet im Rahmen der Frankfurter Buchmesse auf dem Fest der jungen Verlage statt. Präsentieren werden Jury-Mitglied Traudl Bünger und Freitag-Verleger Jakob Augstein.
8. Oktober 2010, 21 Uhr
MA* (Alte Diamantbörse), Stephanstraße 1-3
60313 Frankfurt am Main
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