Im Jahr 1929 kam Piel Jutzis Mutter Krausens Fahrt ins Glück in die Kinos, Siegfried Kracauer veröffentlichte seinen großen Essay über Die Angestellten. Von Sigmund Freud erschien Das Unbehagen in der Kultur, von Siegfried Giedeon Befreites Wohnen. In Stuttgart fand die legendäre "Film und Foto"-Ausstellung fifo statt, Karl Blossfeld publizierte Urformen der Kunst, Franz Roh sein Fotoauge, Werner Gräff das Buch Es kommt der neue Fotograf. 1929 starb Gustav Stresemann. Und an dem Tag, da in Frankfurt a. M., dem damals unbestrittenen "Mekka des Neuen Bauens", die weltweite Kongregation der avantgardistischen Architektur CIAM zu ihrem zweiten Kongress zusammentraf, um sich der "Wohnung für das Existenzminimum" zu widmen, just an diesem 24. Oktober 1929 brach
ach in New York die Börse zusammen.Die Folgen jenes Tages gaben dem Jahrhundert eine Zäsur: Weltweite Rezession, Niedergang ganzer Volkswirtschaften, beispiellose Arbeitslosenzahlen (in Deutschland bis zu 6 Millionen), Verelendung selbst hochindustrialisierter Gesellschaften, am Ende der Absturz in den Weltkrieg. Nach dem "Black Friday" konnte nichts mehr so bleiben, wie es vorher war. Oder war nicht jener ökonomische Supergau doch auch ein Ergebnis vorausgegangener Entwicklungen?Die Ausstellung "1929 - Zeichen einer Zeit im Umbruch" im Bauhaus Dessau kann diese Frage nicht klären. Weil sie sie gar nicht stellt. Hier werden lediglich Schlaglichter auf ein historisches Panorama geworfen, das im Rückblick einerseits durch eine besonders hohe Dichte an markanten Leistungen, andererseits aber auch durch Besorgnis erregende Symptome auffällt. Nach dem hier angelegten Maß der Ereignisse wird das ominöse Jahr 1929 zu einem Gipfel- und zugleich Kreuzweg-Datum der Moderne.Auf einen flüchtigen Blick verspricht solche Bilanz sogar Sinn: Die erste Phase der Industrialisierung ist abgeschlossen, das Fließband hat triumphiert, mit Radio und Film gewinnt die Medienentwicklung neue Dimensionen. Auf Höchstleistungen getrimmte "Wunder der Technik" (Wolkenkratzer, Atlantikflieger, "Silberpfeile") ziehen Rekordsüchtige in ihren Bann. Mit Lebensreform oder Zerstreuungskult sucht die Gesellschaft nach Momenten einer Modernisierung in sich selbst. Spannende Zeiten, zweifellos! Die Ausstellung findet für das disparate Material auch ein originelles Gliederungskonzept: Im halbrunden Grundriss der Aufstellwände werden fünf thematische "Sektoren" keilförmig aufgefächert, während sich in konzentrischen Ringen jeweils die "Brennweite" der Betrachtung abstuft - von der "großen weiten Welt" im Außenring, über "Weimarer Republik" im Mittelteil bis zum "Bauhaus" im Zentrum. Dieses kreisförmige Planbild beruft sich ausdrücklich auf den Grundriss von Walter Gropius' berühmtem Dessauer Arbeitsamt, um so "die Suche nach Arbeit als zentrales Thema jener Jahre" (O-Ton Ausstellung) zu versinnbildlichen.Doch im Fokus dieses intelligent konstruierten Themenzirkus', im Fluchtpunkt aller thematischen Perspektivlinien, steht ganz einsam auf einem Sockel ein blankpoliertes Roulette. Die Welt nichts als ein Glücksspiel ... sollte das die Botschaft sein?In den fünf Sektoren werden die als charakteristisch angenommenen Problemfelder jener Jahre illustriert, jeweils unter Begriffspaarungen wie "Radikalisierung und Polarisierung", "Planung und Ordnung" oder "Kommunikation und Imagination" gestellt. Unter "Rationalität und Rationalisierung" etwa werden so typologisch verwandte Innovationen wie der Effizienz steigernde Montagebau, genossenschaftliche Arbeitersiedlungen und die "Frankfurter Küche", aber auch das durch Technisierung des Arbeitsalltags veränderte Frauenbild präsentiert. Unter "Irrationales und Existenzielles" findet man, wohl als "Schattenseite der Moderne", so disparate Phänomene wie Theosophie, Okkultismus und Rassismus (Kunst und Rasse von Paul Schultze-Naumburg erschien 1928), aber auch Surrealismus und Psychoanalyse versammelt.Die Leitvokabel über allem, ob direkt oder indirekt verhandelt, lautet "Krise". Doch ob damit das ökonomische und gesellschaftliche Desaster nach dem Börsencrash oder die (ja immerhin zu vermutende) erste allgemeine "Krise der Moderne" gemeint ist, bleibt unklar. Genau dies aber wird zum entscheidenden Manko der Ausstellung, die sich anhand ihres Materials - ausschließlich Reproduktionen aus Büchern und anderen zeitgenössischen Medien - als Lehrschau gibt. Hätten sich die Kuratoren, allesamt dem Bauhaus mehr oder weniger dauerhaft verbunden, doch bloß mit den kulturellen Aspekten jener so ergiebigen Jahre zufriedengegeben! Was ihre (äußerst willkürlich erscheinende) Auswahl an Illustrationen etwa zum zeitgeistigen Zusammenhang zwischen funktionaler Modernität und Surrealismus oder zur Affinität zwischen Technikkult und neuem Körpergefühl oder Massenästhetik aufscheinen lässt, nimmt man mit Gewinn zur Kenntnis. Aber schon bei den sozialen Zielen des "Neuen Bauens" gerät wichtiges durcheinander: Hatte doch die Sorge um das Existenzminimum nichts mit dem "Black Friday" zu tun (höchstens als Schadensfolge - die einschlägigen Bauprogramme bankrottierender Stadtverwaltungen kamen danach zum Erliegen), vielmehr war die von Hannes Meyer eben hier in Dessau ausgegebene Devise "Volksbedarf statt Luxusbedarf" Überzeugungsgrundlage einer Avantgarde, die sich seit Ende des Ersten Weltkriegs nicht zuletzt vehement in sozialer Verantwortung sah.Im Bereich des Politischen schließlich wird das "1929"-Projekt des Bauhauses richtig ärgerlich. Wer das Ende der Weimarer Republik einzig als Widerstreit sich "rechts und links" radikalisierender "außerparlamentarischer Kräfte" beschreibt, die "das Klima des gesellschaftlichen Zerfalls ausnutzend ... durch gezielte Propaganda staatsfeindliche Massenkundgebungen organisierten" und so durch eine "Berührung der Extreme" (gemeint sind NSDAP und KPD) die parlamentarische Demokratie zerstörten, der kann nicht einmal von seiner eigenen Analyse der bodenlosen Gesellschaftskrise jener Jahre allzu ernsthaft beeindruckt gewesen sein: Der hat wohl keine Vorstellung von den verzweifelten Protestpotenzialen einer Verlierermehrheit in absoluter Perspektivlosigkeit.Und irgendwie scheint es ja in neoliberalen Zeiten sogar ein wenig peinlich, dass F. D. Roosevelt als pragmatische Reaktion auf die Depression mit dem New Deal selbst in den USA planwirtschaftlich inspirierte Staatsinterventionen durchsetzte. Auch warum die Sowjetunion "von der weltweiten Krise nahezu unberührt" blieb, ist den Ausstellungsmachern kein Wort der Erörterung wert. Dafür geht Stalins Versuch einer "Amerikanisierung" seiner Technologiebasis höchstens als "vermeintliche Modernisierung" durch. Wieso vermeintlich? Derart leichtfertig darf, wenn es um eine Analyse der Moderne gehen soll, das enorm aufschlußreiche Beispiel Magnitogorsk, diese machtvoll gewalt(tät)ige Schließung der schwerindustriellen Lücke in den Urwäldern am Ural, heute einfach nicht mehr verschenkt werden - zumal in direkter Gegenüberstellung mit Roosevelts mindestens ebenso patriotisch beflügelnder wie "unsanfter" Staudammkaskade des Tennessee Valley Project, oder mit Hermann Sörgels blasphemischer Atlantropa-Vision zur nutzbringenden Trockenlegung des Mittelmeeres, für das sich nennenswerte Teile der geistigen wie auch der wirtschaftlichen Elite Deutschlands tatkräftig engagierten.Natürlich gab es für die Weltwirtschaftskrise nach 1929 sowohl Gründe als auch allerhand Vorgeschichten. Doch in der Dessauer Ausstellung steht "der Crash" wie eine Eruption von Naturgewalten im Raum. Ansonsten hängt alles mit allem irgendwie zusammen. Wenn sich solches Denken in Voraussetzungslosigkeiten weiter verfestigt, wird man in dem historischen Institut bald nicht mehr erklären können, warum seine drei berühmten Direktoren in eben jenen Jahren scheiterten und am Ende gar das ganze Haus schließen musste. Bleibt nur zu hoffen, dass die für nächstes Jahr versprochene Buchpublikation auf weniger wackeligen Füßen zu stehen kommt.1929 - Zeichen einer Zeit im Umbruch. Ausstellung im Bauhaus Dessau, noch bis 24. April 2000 täglich 10-18 Uhr, Eintritt: DM 5,-, ermäßigt DM 3,-