Seit das nukleare Wettrüsten zwischen den USA und der UdSSR der Vergangenheit angehört, sind die Gefahren eines Atomkrieges im öffentlichen Bewusstsein weniger präsent. Aber noch immer werden weltweit 36.800 nukleare Sprengköpfe gelagert. 93 Prozent davon in den Arsenalen der USA und Russlands - der Rest in denen Frankreichs, Großbritanniens, Chinas, Indiens, Pakistans und Israels. Nicht allein das Ausmaß dieses Potenzials verbietet jedwede Entwarnung - vor allem die damit verbundenen Militärstrategien sind es. Wir beginnen daher in dieser Ausgabe eine Artikelfolge, die sich in den folgenden Wochen mit der atomaren Rüstung und den Einsatzdoktrinen der führenden Kernwaffen-Mächte beschäftigen wird.
Wer nach Wurzeln für den unerschütterlichen Glauben Frankreichs an sein Atomwaffenarsenal sucht, wird eine Erklärung in tief sitzenden Verletzungen des nationalen Selbstwertgefühls finden, in denen sich die vierziger Jahre des zurückliegenden Jahrhunderts spiegeln. Französische Atomphysiker gehörten zu den Pionieren des friedlichen wie auch militärischen Gebrauchs der Kernenergie, als im September 1939 der Ausbruch des II. Weltkrieges ihren Arbeiten einen zusätzlichen Schub verschaffte. Mit dem Erwerb von Uran aus Belgisch-Kongo sowie erheblicher Mengen schweren Wassers aus Norwegen wurden maßgebliche Vorkehrungen für den Bau einer eigenen Atombombe getroffen, doch setzte die deutsche Okkupation im Juni 1940 diesen Ambitionen ein jähes Ende. Französische Wissenschaftler sollten - soweit sie ins Exil gingen - in den folgenden Jahren in England und später in Kanada am britischen Atomprojekt mitarbeiten und zugleich erfahren, wie sehr sie beim Manhattan-Projekt der Amerikaner unerwünscht waren. Damals reifte die Überzeugung, Frankreich werde nur dann zur Nuklearmacht aufsteigen, wenn es sich voll und ganz auf ein eigenes Arsenal stützen könne.
Unmittelbar nach Kriegsende wurde daher auf Betreiben von General de Gaulle das französische Nuklearprogramm unter der Ägide des Commissariat à l´énergie atomique (CEA) wieder aufgenommen. Als nach den USA (1945) und der UdSSR (1949) auch Großbritannien im Jahre 1952 seine erste Nuklearbombe erfolgreich getestet hatte, forcierte das die Entfaltung des französischen Atomwaffenprojekt ebenso wie die militärische Integration Westdeutschlands in das westliche Bündnis.
Weitere - aus Pariser Sicht - frustrierende Erfahrungen taten ein Übriges: Mit dem von US-Präsident Eisenhower Ende 1953 aufgelegten "Atoms for Peace"-Programm sollte die amerikanische Vormacht auf nuklearem Gebiet zementiert werden. Schwer brüskiert fühlte sich Paris, als die Amerikaner im April 1954 das Begehren von Außenminister Bidault zurückwiesen, durch den Einsatz von Kernwaffen eine Niederlage der französischen Kolonialarmee im nordvietnamesischen Dien Bien Phu abzuwenden. Frankreichs Machtelite schwor sich auf das Axiom ein: Atomwaffen braucht, wer seine "Souveraineté Nationale" garantieren und sich weltpolitisch Gehör verschaffen will.
Sankt-Florians-Prinzip
So detonierte am 13. Februar 1960 auf dem Testgelände Reganne in der Sahara der erste französische Atomsprengsatz. Als dieses Versuchsgelände wegen der Unabhängigkeit Algeriens zwei Jahre später nicht mehr zur Verfügung stand, verlegte die Force de frappe ihre Kernwaffenversuche in den Südpazifik. Es sollte über die Jahrzehnte hinweg 215 davon gegeben haben, ehe im Mai 1996 die Testanlagen auf den Polynesien-Inseln Moruroa und Fangataufa endgültig geschlossen wurden.
Parallel zu den ersten erfolgreichen Nukleartests wurde damit begonnen, die Trägersysteme zu bauen. Die luftgestützte Funktion übernahm zunächst der Überschallbomber Mirage IV mit einer Reichweite von 1.500 Kilometern. Um allerdings Ziele in der Sowjetunion glaubhaft bedrohen zu können, mussten in den USA zusätzlich Flugzeuge zur Luftbetankung gekauft werden, um den Aktionsradius auf 3.000 Kilometer zu erweitern. Einen Durchbruch beim Bau strategischer Raketen verzeichnete die Force de frappe mit dem Transport eines Satelliten in den Weltraum durch die Trägerrakete Diamant am 26. November 1965. Darüber hinaus begannen die Arbeiten an Boden-Boden- sowie See-Boden-Raketen, die mit 150-Kilotonnen-Sprengköpfen ausgerüstet waren. Auf dem Plateau d´Albion in Alpes De Haute-Provence entstanden 18 unterirdische Silos zur Stationierung ballistischer Raketen. Als seegestützte Trägermittel dienten fünf atombetriebene U-Boote, die mit je 16 Mittelstreckenraketen bestückt waren und gleichfalls eine Reichweite von bis zu 3.000 Kilometern aufwiesen.
Frankreichs Diplomatie flankierte dieses Programm in den internationalen Gremien nach dem Sankt-Florians-Prinzip mit der Formel: "Wir sind zwar für die Beseitigung aller Kernwaffen, aber vorher müssen die nuklearen Supermächte abrüsten". Man unterstützte lediglich solche Abkommen, von denen die eigene atomare Aufrüstung nicht tangiert wurde. So unterzeichnete Frankreich 1959 den Antarktisvertrag wie auch den Weltraumvertrag von 1967, nahm aber weder an Verhandlungen zum Teilteststoppvertrag von 1963 noch zum Kernwaffensperrvertrag von 1970 teil. Der damalige Genfer Abrüstungsausschuss wurde unter dem Vorwand boykottiert, er sei von den Supermächten dominiert (bis heute wird eine Teilnahme an bilateralen sowjetisch/russisch-amerikanischen Kernwaffenverhandlungen ausgeschlossen).
Als mit den Jahren die Radikalverweigerung kontraproduktiv zu werden begann, wurde auf mehr Kooperation umgeschaltet. So beschloss die Regierung Mitterrand 1992, dem Kernwaffensperrvertrag beizutreten und sich unter die Erstunterzeichner eines umfassenden Teststoppvertrages zu begeben, den die Pariser Nationalversammlung im Gegensatz zu den Parlamenten Chinas und der USA auch ratifizierte. Bis heute gilt jedoch das Prinzip, eigene Arsenale können erst dann Verhandlungsgegenstand sein, wenn der Abbau der amerikanischen und russischen Kernwaffenbestände dies gestattet.
In Diensten Europas
Über Jahrzehnte hinweg folgte die französische Nuklearstrategie der Doktrin einer massiven Vergeltung. Da eine solche Totalabschreckung in den achtziger Jahr zusehends an Glaubwürdigkeit verlor, wurde zur "Strategie der flexiblen Reaktion" übergegangen - der "Stratégie plus nuancée redete", die Revisionen hinsichtlich der Struktur und Einsatzplanung der Kernwaffen auferlegte. Dies um so mehr, als man sich mit dem Ende des Kalten Krieges zu einer grundsätzlichen Neubewertung der eigenen Position in der Weltpolitik gezwungen sah. 1990/91 entfiel nicht nur die perzipierte Bedrohung aus dem Osten, sondern auch die zu Lebzeiten der Sowjetunion wirkende Selbstbeschränkung für das Verhalten der Supermächte innerhalb eines bipolaren Gleichgewichts. Die neuen Kriege auf dem Balkan, in Afghanistan und in der Golfregion wie auch das Vorgehen gegen den internationalen Terrorismus ließen zudem erkennen, dass die verbliebene Supermacht USA ausgesprochen hegemonial agierte und völkerrechtliche Normen ebenso missachtete wie die Interessen seiner Verbündeten.
Was die europäische Kräftebalance betraf, so stieß Frankreich mit dem vereinten und souveränen Deutschland nun auf einen in vielerlei Hinsicht ebenbürtigen Partner. Die fällige Neuorientierung verlangte daher auch nach einer Modifizierung der französischen Nuklearpolitik und lief auf die Frage hinaus: Wie lässt sich das vorhandene Atompotenzial weiterhin als Instrument französischer Außenpolitik nutzen? Eine endgültige Antwort scheint bis heute nur bedingt gefunden. Wiederholt gab es vage Angebote, Frankreich könne seine Kernwaffen möglicherweise in Form einer "konzertierten Abschreckung" einer Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GASP) der EU zu Verfügung stellen. Dies - so die Hoffnung im Elysée-Palast - werde Frankreichs Gewicht in der Union erhöhen und verheiße zugleich mehr europäische Verteidigungsautonomie gegenüber den USA, doch erreichten diese Überlegungen nie ein Stadium, das zu konkreten Entscheidungen geführt hätte.
Plateau d´Albion geschleift
Derzeit verfügt Frankreich über rund 350 Nuklearsprengköpfe. Als luftgestützte Trägermittel stehen drei Geschwader mit insgesamt 60 modernen Mirage-Bombern vom Typ 2000-N und einer Reichweite von 2.750 Kilometern zur Verfügung. Sechs mit je 16 nuklearen Interkontinentalraketen bestückte U-Boote sowie auf dem Flugzeugträger Charles de Gaulle stationierte Super-Etendard-Maschinen mit Luft-Boden-Raketen an Bord bilden die seegestützten Systeme. Auf die landgestützte Komponente der Force de frappe wurde zwischenzeitlich vollends verzichtet - die Mittelstreckenraketen sind verschrottet und die Silos auf dem Plateau d´Albion geschleift. Frankreich stellt momentan weder waffenfähiges Plutonium noch hochangereichertes Uran her. Die Wiederaufbereitungsstätte in Marcoule wie auch die Uran-Anreicherungsanlage in Pierrelatte wurden geschlossen. Aus Kostengründen wird die Einführung von etwa 300 Kampfflugzeugen des Typs Rafale als Nachfolger der Mirage-Bomber und der Etendard-Flugzeuge zeitlich gestreckt. Bis 2008 soll die Innovation der U-Boot-Flotte vollendet sein. Die drei bisher in Dienst gestellten Boote Triomphant, Temeraire und Vigilant gehören jedenfalls schon einer neuen Generation an, durch ihre mit sechs Sprengköpfen ausgerüsteten Raketen - Reichweite bis 10.000 Kilometer - erreichen sie eine territorial unbegrenzte Einsatzfähigkeit.
Imperiale Attitüden
Frankreich versucht heute, sein Nukleararsenal so zu modernisieren, dass es nicht nur flexibler, sondern auch im Sinne einer globalen Interventionsfähigkeit einsetzbar ist, basierend auf einer wohl proportionierten Triade aus strategisch-nuklearen, taktisch-nuklearen sowie konventionellen Streitkräften. Dazu veranschlagt die Verteidigungsplanung 2003 - 2008 17 Milliarden Euro für den Bau eines weiteren U-Bootes, die Entwicklung einer Langstreckenrakete sowie die von Jagdbombern abzufeuernde Mittelstreckenrakete Amiliore mit einer Reichweite von 500 Kilometern. Bis spätestens 2010 soll überdies mit dem Bau kleinerer Sprengköpfe, so genannten "Mininukes", begonnen werden, womit die Hemmschwelle für den operativen Einsatz von Kernwaffen weiter gesenkt werden dürfte.
Bereits im Juni 2001 hatte Präsident Chirac mit einem Vortrag am Institut des Hautes Etudes de Défense Nationale (IHEDN) eine angepasste Abschreckungsdoktrin skizziert, indem er an die Adresse von Staaten, die atomare, biologische oder chemische Waffen entwickeln, die Warnung richtete: "Falls ihre Absichten uns gegenüber feindselig sind, müssen die Führer dieser Staaten wissen, dass sie sich damit einem Gegenschlag mit inakzeptablen Schäden aussetzen." Und Verteidigungsministerin Michèle Alliot-Marie bekräftigte Anfang dieses Monats: Es gäbe immer mehr Staaten, die versuchten, sich Kernwaffen zu verschaffen und sie möglicherweise - auch gegen Frankreich einzusetzen. Denen könne man sagen: "Achtung, lasst ihr euren Drohungen Taten folgen, werden wir euch zerstören." Das gelte genauso für einen Angriff mit chemischen oder biologischen Potenzialen. Mit anderen Worten: Um sich gegenüber den imperialen Attitüden der USA schadlos zu halten, kopiert Frankreich weitgehend deren Muster - bis hin zu einer analogen Präventivstrategie.
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